Von der Kunst, da zu sein

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„Wie ist es möglich, da zu sein?“ fragt Jakub Kavin als Malte=Rilke in seiner aktuellen Theaterproduktion (Fotos: Felix Kubitza)

Sehen lernen, die Wirklichkeit erfahren, das Leben fühlen: In der Wiener Leopoldstadt bringt Jakub Kavin die Textkunst Rainer Maria Rilkes musikalisch auf die Bühne. Eine Herausforderung, die funktioniert.

„Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?“ lässt Rainer Maria Rilke sein Alter Ego Malte Laurids Brigge 1910 im gleichnamigen Roman rhetorisch fragen. „Ja, es ist möglich“, nimmt dieser die Antwort umgehend vorweg. Und auch über 100 Jahre später kann man diese Frage getrost bejahen – so wie der Wiener Regisseur und Schauspieler Jakub Kavin in seiner aktuellen Theaterproduktion „RM Rilke“, wenn er der Oberflächlichkeit einer Selfie-inszenierten Gegenwart selbst-reflektorischen Tiefgang entgegensetzt. In der Figur des Malte stellt sich Kavin gemeinsam mit Bernhardt Jammernegg als alternden Rilke und Barbara Schandl als Lou Andreas Salomé, Rilkes Lebensmenschen, den großen Fragen des Lebens, die zeitlose Gültigkeit besitzen: Daseinsangst, Schicksal, Wollust, Tod, Krankheit und das Zerinnen von Zeit ebenso wie Liebe, Entindividualisierung, Identität und künstlerisches Selbstverständnis im Spiegel der Gesellschaft.

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Glänzt als moderner Malte: Jakub Kavin (Foto: © Felix Kubitza)

Großstadt im Spiegel

„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ ist der einzige Roman des Jahrhundert(wende)dichters Rilke, der 1902/1903 während seines Paris-Aufenthalts entstanden und 1910 erschienen ist. Das von dem österreichischen Dichter selbst als „Prosabuch“ bezeichnete Werk zählt in der Literaturwissenschaft zu den „großen Durchbruchleistungen“ (H. E. Holthusen) des modernen Romantypus’. In 71 Aufzeichnungen erzählt ein junger Däne aus bester Familie von seinem darbenden Leben in Paris um 1900. Geworfen in ein neues Dasein, erlebt der junge Schriftsteller die moderne und rasant wachsende Großstadt von ihrer unmenschlichsten Seite. Als seismographischer Beobachter seiner Zeit reflektiert das narrative Ich messerscharf das Menschliche und Allzumenschliche in einer zunehmend entmenschlichten, urbanen Lebenswelt. Denn das Paris der Jahrhundertwende, die seinerzeit drittgrößte Stadt der Erde, fordert, allem Fortschritt zum Trotz, erbarmungslos ihren Tribut: Technologisierung auf der einen Seite und Verelendung der Massen, Anonymisierung und eine immer größer werdende Disparität von Arm und Reich auf der anderen Seite bestimmen das soziale Gefüge einer Metropole auf dem Höhepunkt der Industrialisierung. Gestern wie heute.

Interdisziplinäres Gesamtkunstwerk

Aber ist es auch möglich, einen der wirkungsmächtigsten Romane der literarischen Moderne, der ob der Komplexität seiner Erzählweise schon an den Leser eine echte Herausforderung darstellt, in ein Bühnenwerk zu integrieren? Ja, es ist möglich! Denn Kavin versteht es, aus den rund 250 Seiten des Romans diejenigen Textpassagen herauszudestillieren, die in Wirkung und Aussage auf die heutige Zeit referenzieren und als roter Faden das Rilke’sche Textmosaik geschickt zusammenhalten. Damit nicht genug, fügen sich Passagen aus Rilkes „Briefen an den Jungen Dichter“, Salomés „In der Schule bei Freud“ und ihrer Briefe an Rilke sowie die von Schandl und Jammernegg auf der Bühne musikalisch aufbereiteten Gedichte Rilkes (u.a. die dritte Elegie) geschmeidig und wie selbstverständlich in das interdisziplinäre Gesamtkonzept mit ein.

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Rilkes Lebensmensch: Lou Andreas Salomé alias Barbara Schandl (Foto: © Felix Kubitza)

Auf der Suche nach sich selbst

Im Mittelpunkt von „RM Rilke“ stehen die Bewusstseinswerdung und die Suche nach der Essenz des Lebens. Maltes melancholische Meditation über seine Kindheit und die von der seiner Mutter forcierte „Doppelgeschlechtlichkeit“, wie es Lou Andreas Salomé später noch über Rilke sagen wird, bilden den Auftakt dieser multisensorischen Inszenierung, bei der die Bühne als schwarzer Holzsteg in der Mitte des Theaterraumes die Zuschauerreihen teilt. Die selbstzerstörerische Ich-Fragmentierung eines an der Welt leidenden jungen Dichters (Malte) wird in den Dialogen mit Salomé und Rilke gespiegelt und kontrastiert – und trägt der synästhetischen Beschreibung von Innen- und Außenwelt, der gleichzeitigen Präsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und der dialektischen Doppelsinnigkeit des Romans Rechnung.

Rilke als Theater? Ja, es ist möglich.

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„Muss ich schreiben?“ Bernhardt Jammernegg als alternder Rilke (Foto: © Felix Kubitza)

Jakub Kavín versteht es, dem an der Welt leidenden Malte ein charismatisches Gesicht zu verleihen, ohne sich in Hyper-Theatralik zu verlieren. Barbara Schandl als Lou Andreas Salomé überzeugt als philosophisches Gewissen und liebende Freundin Maltes/Rilkes nicht nur mit der klavierbegleitenden Vertonung gesungener Rilke-Gedichte, sondern auch oder gerade mit der unaufgeregten Intensität ihres Schauspiels. Bernhardt Jammernegg fasziniert mit seinem Charaktergesicht als alternder Rilke, der selbst tief von der Triebfeder des künstlerischen Schaffens durchdrungen zu sein scheint: Gefühl. Gebannt von der künstlerischen Leistung dieses kongenialen Rilke-Trios taucht der Zuschauer ein in die subjektive Wahrnehmungswelt einer empfindsamen Künstlerpersönlichkeit, die mit weit geöffneten Sinnessensoren der durchlebten Wirklichkeit schutzlos gegenübersteht – ein Mikrokosmos des Lebens in all seinen Facetten und ambivalenten Erscheinungsformen, der lange nachwirkt.

– Lina Bibaric ­­-

 

RM Rilke – wie ist es möglich, da zu sein?
Von Jakub Kavín

Mit Barbara Schandl, Bernhardt Jammernegg, Jakub Kavin

Theater Delphin, Blumauergasse 24, 1020 Wien
7., 8., 14., 15. und 17.  April 2018, jeweils 20 Uhr

Weitere Infos unter www.theaterarche.at

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