zwEins.

Bevor sie wusste, wer sie heute ist, ahnte sie nicht, wer sie einmal sein wird. Aber sie spürte, dass das Universum etwas für sie bereithält, das bedeutender, harmonischer, erfüllter war als das, was sie kannte. Ein neues Leben, gleich einem sich immerfort ausdehnenden Mosaik aus zusammenhängenden Situationsbausteinen, dessen Gesamtbild sie allenfalls erraten konnte. Früher ergaben die Dinge erst retrospektiv einen Sinn, als ob die Gegenwart für die Vergangenheit lebte und sich auf ihrem steinigen Weg zur bleibenden Erinnerung in einem Labyrinth aus intuitionsgesteuerten Sackgassen verlor. Was blieb, war der inständig herbeigesehnte, seltene Augenblick, in dem sich die Sinne weiteten und der Mund schloss, um endlich zu schweigen; zu viel wurde schon gesagt. Dann, in diesen wenigen stillen Momenten sensibilisierter Wahrnehmung, hinter gepanzerten Türen zur Außenwelt, öffnete sich sachte das Füllhorn einer gut gehüteten Innenwelt, in der das Unbedeutende bedeutsam wird.

In jenen destillierten Momenten liebte sie den Regen. Immer wenn es regnete, beobachtete sie die Wasserfäden, die wie Linien aus Glas den Horizont in kleinste Teilchen zerschneiden und die Dächer in glänzende Spiegelmatrizen verwandeln. Regen bedeutet Freiheit. Nichts müssen zu müssen. Nicht mehr die endlichen Stunden eines viel zu kurzen Tages mit nutzlosen Dingen zu verschwenden. Nicht mehr die rückwärts laufende Zeit mit gewieften Zeitdieben zu verspielen. Regen verwandelt SchönwetterHektik in dahinplätschernde Muße. Immer, wenn es regnete, rauchte sie.

Sie liebte den Rauch. Die filigranen Fäden der sich im Luftzug auflösenden Schleier, in denen sie Dinge erkannte, die nur wenige wahrnahmen. Wie sich der Rauch verändert, vermischt und wieder auseinanderflieht, sich in Lichtstrahlen in zerfließende Skulpturen verwandelt, um gemächlich eins zu werden mit den Milliarden Molekülen der ihn umgebenden Atmosphäre. Wohin zieht die Flamme der Kerze, die erlischt? Sie behielt ihre kreisenden Gedanken stets für sich, zu groß war das Misstrauen vor dem Nichtverständnis derer, deren Urteil den Schaffenden niemals interessieren darf.

Und sie funktionierte, acht Stunden täglich auf dem medialen Straßenstrich einer maroden Hochglanzgesellschaft. Ein Mensch als nachwachsende Ressource, born to be sold. Am Tage schrieb sie leere Phrasen für bedeutungslose Produkte einer dem Verfall preisgegebenen Scheinwelt. Erstarrte Routine, Retortenrhetorik, im Akkord produziert, in toxischer Umgebung konsumiert. Schwarze Buchstaben auf grellem Weiß, Serifenzeugen des sterbenden Augenblicks, écriture automatique einer durchautomatisierten Welt.

Sie fühlte sich ausgeschlossen. Am Abend vereinsamte sie im Kreise derer, deren Welt sie nicht teilte. Dahinsiechende, Kapitulierende vor dem Leben, das nicht überlebt. Und sie, Überlebende eines implodierenden Versuchsplaneten, Luftwurzler auf verdorrten Böden wie gehärteter Granit vor umgekipptem Wattenmeer. Zusammen einsamer als allein.

Sie wusste um die Fehlbarkeit in ihrem Dasein, und doch war sie ganz bei sich, wenn sie durch die Straßen streifte und das Leben der Anderen atmete, das durch die vielen Fenster nach draußen diffundiert. Dann fragte sie sich, was die anderen Menschen jetzt tun. Jetzt, in genau diesem Augenblick. Wer vermisst, wer vergisst? Wer lügt, wer betrügt? Wer weint, wer lacht? Träumt, versäumt? Verzweifelt, vertraut? Verliebt sich, verlässt sich? Erlischt oder wird geboren? Kopfkino der Emphatie.

Aber sie hoffte – und diese Hoffnung war der Treibstoff ihres Daseins –, dass es irgendwo da draußen jemanden gibt, der ihre Sprache spricht. Einen Muttersprachler des Feinsinns, Obermaß unter Mittelmäßigen, einen Zwischen-den-Zeilen-Leser, der in vertrauten Gedanken denkt, einen Sehenden unter Blinden, der mit ihren Augen schaut. Einen Erwachten, der sie aus ihrem Dämmerschlaf weckt. Aber wie konnte sie nach ihm suchen, wenn sie das Finden nicht beherrschte? Wie konnte sie finden, ohne zu wissen, wonach sie suchte?

Und so lebte sie weiter im Gestern aus Angst vor dem Morgen, konjugierte die Zukunft aus Angst vor dem Präsens. Doch niemand las ihre Worte, die kathartisch aus ihren Fingern flossen. Fast schämte sie sich ihrer – sie, die so viele schöne Worte kannte, vor denen, die so viel schönere Worte kannten. Aber sie schrieb, schrieb von Regen und Rauch, von der Synchronizität des Lebens, von der Suche nach richtigen Worten zu richtigen Zeiten, vom Wohlwollen und Endlichgutwerden. Sie schrieb gegen die Wand, ohne das ermutigende Gefühl, das Richtige zu tun, ohne Aussicht auf Widerhall.

Bis zu jenem Tag, der ihr Lebensmosaik fragmentierte und neu zusammensetzte. Jenem Tag, an dem sie in der weiten digitalen Welt auf beispiellose Zeilen stieß. Wer war der Verfasser jener eigentümlichen Metaphern und anarchischen Syntaxen? Wer wagt es, die Zutaten aus Silben und Satzzeichen, Präfixen und Suffixen, so furchtlos durcheinanderzuwirbeln und mit der musikalischen Genialität eines Ligeti zu komponieren, das daraus etwas derart Unerhörtes entsteht, ein Sprachkunstwerk, das versehentlich die geistige Schönheit seines Verfassers enthüllt?

Sie wollte, – nein, sie musste! – es wissen. Mit wiederentdecktem Urvertrauen schrieb sie ihm, der – da war sie sich zum ersten Mal ganz sicher – anders war als alle anderen.

Eines Tages bekam sie Antwort. Nicht eine, sondern mehrere, immer mehr einnehmende, entzückende Antworten, verpackt in derart unerwartete, nährende Sprachbilder, welche von Erfahrungen künden, die vom Fahren kommen, von Erwartungen, die das Gegenteil von Hoffnung sind, von Panthern, deren Blick „vom Vorübergehen der Stäbe so müd geworden ist“*.  Diamantene Gedanken, facettenreich geschliffen von einem Humor, der vom Denken kommt.

Sie schrieben einander digital und fanden zueinander analog, zwei Sporen in einem „Meer aus Pusteblumen“**, auf fruchtbaren Boden sinkend und ineinander verwurzelnd, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Bereit, gemeinsam zu blühen. Bereit, gemeinsam zu welken. Zwei Suchende, vereint im Gefundensein, verewigt in der Gegenwart.

Sie erkannte den Sinn. Ohne zu zögern und mit der inneren Sicherheit einer Gläubigen verließ sie die schlafende Stadt und erwachte im Land der Berge. Ohne Angst vor der Zukunft, ohne Verlorensein in der Vergangenheit.

Sie wusste, sie tat das Richtige.
Er wusste, sie ist die Richtige.

Aus Eins wurde Zwei wurde …

zwEins.

Anmerkungen:

*Rainer Maria Rilke: Der Panther

**kollaps;mpuls

 

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