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Von der Kunst, da zu sein

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„Wie ist es möglich, da zu sein?“ fragt Jakub Kavin als Malte=Rilke in seiner aktuellen Theaterproduktion (Fotos: Felix Kubitza)

Sehen lernen, die Wirklichkeit erfahren, das Leben fühlen: In der Wiener Leopoldstadt bringt Jakub Kavin die Textkunst Rainer Maria Rilkes musikalisch auf die Bühne. Eine Herausforderung, die funktioniert.

„Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?“ lässt Rainer Maria Rilke sein Alter Ego Malte Laurids Brigge 1910 im gleichnamigen Roman rhetorisch fragen. „Ja, es ist möglich“, nimmt dieser die Antwort umgehend vorweg. Und auch über 100 Jahre später kann man diese Frage getrost bejahen – so wie der Wiener Regisseur und Schauspieler Jakub Kavin in seiner aktuellen Theaterproduktion „RM Rilke“, wenn er der Oberflächlichkeit einer Selfie-inszenierten Gegenwart selbst-reflektorischen Tiefgang entgegensetzt. In der Figur des Malte stellt sich Kavin gemeinsam mit Bernhardt Jammernegg als alternden Rilke und Barbara Schandl als Lou Andreas Salomé, Rilkes Lebensmenschen, den großen Fragen des Lebens, die zeitlose Gültigkeit besitzen: Daseinsangst, Schicksal, Wollust, Tod, Krankheit und das Zerinnen von Zeit ebenso wie Liebe, Entindividualisierung, Identität und künstlerisches Selbstverständnis im Spiegel der Gesellschaft.

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Glänzt als moderner Malte: Jakub Kavin (Foto: © Felix Kubitza)

Großstadt im Spiegel

„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ ist der einzige Roman des Jahrhundert(wende)dichters Rilke, der 1902/1903 während seines Paris-Aufenthalts entstanden und 1910 erschienen ist. Das von dem österreichischen Dichter selbst als „Prosabuch“ bezeichnete Werk zählt in der Literaturwissenschaft zu den „großen Durchbruchleistungen“ (H. E. Holthusen) des modernen Romantypus’. In 71 Aufzeichnungen erzählt ein junger Däne aus bester Familie von seinem darbenden Leben in Paris um 1900. Geworfen in ein neues Dasein, erlebt der junge Schriftsteller die moderne und rasant wachsende Großstadt von ihrer unmenschlichsten Seite. Als seismographischer Beobachter seiner Zeit reflektiert das narrative Ich messerscharf das Menschliche und Allzumenschliche in einer zunehmend entmenschlichten, urbanen Lebenswelt. Denn das Paris der Jahrhundertwende, die seinerzeit drittgrößte Stadt der Erde, fordert, allem Fortschritt zum Trotz, erbarmungslos ihren Tribut: Technologisierung auf der einen Seite und Verelendung der Massen, Anonymisierung und eine immer größer werdende Disparität von Arm und Reich auf der anderen Seite bestimmen das soziale Gefüge einer Metropole auf dem Höhepunkt der Industrialisierung. Gestern wie heute.

Interdisziplinäres Gesamtkunstwerk

Aber ist es auch möglich, einen der wirkungsmächtigsten Romane der literarischen Moderne, der ob der Komplexität seiner Erzählweise schon an den Leser eine echte Herausforderung darstellt, in ein Bühnenwerk zu integrieren? Ja, es ist möglich! Denn Kavin versteht es, aus den rund 250 Seiten des Romans diejenigen Textpassagen herauszudestillieren, die in Wirkung und Aussage auf die heutige Zeit referenzieren und als roter Faden das Rilke’sche Textmosaik geschickt zusammenhalten. Damit nicht genug, fügen sich Passagen aus Rilkes „Briefen an den Jungen Dichter“, Salomés „In der Schule bei Freud“ und ihrer Briefe an Rilke sowie die von Schandl und Jammernegg auf der Bühne musikalisch aufbereiteten Gedichte Rilkes (u.a. die dritte Elegie) geschmeidig und wie selbstverständlich in das interdisziplinäre Gesamtkonzept mit ein.

Theater Arche, Rilke, Lou Andreas Salomé

Rilkes Lebensmensch: Lou Andreas Salomé alias Barbara Schandl (Foto: © Felix Kubitza)

Auf der Suche nach sich selbst

Im Mittelpunkt von „RM Rilke“ stehen die Bewusstseinswerdung und die Suche nach der Essenz des Lebens. Maltes melancholische Meditation über seine Kindheit und die von der seiner Mutter forcierte „Doppelgeschlechtlichkeit“, wie es Lou Andreas Salomé später noch über Rilke sagen wird, bilden den Auftakt dieser multisensorischen Inszenierung, bei der die Bühne als schwarzer Holzsteg in der Mitte des Theaterraumes die Zuschauerreihen teilt. Die selbstzerstörerische Ich-Fragmentierung eines an der Welt leidenden jungen Dichters (Malte) wird in den Dialogen mit Salomé und Rilke gespiegelt und kontrastiert – und trägt der synästhetischen Beschreibung von Innen- und Außenwelt, der gleichzeitigen Präsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und der dialektischen Doppelsinnigkeit des Romans Rechnung.

Rilke als Theater? Ja, es ist möglich.

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„Muss ich schreiben?“ Bernhardt Jammernegg als alternder Rilke (Foto: © Felix Kubitza)

Jakub Kavín versteht es, dem an der Welt leidenden Malte ein charismatisches Gesicht zu verleihen, ohne sich in Hyper-Theatralik zu verlieren. Barbara Schandl als Lou Andreas Salomé überzeugt als philosophisches Gewissen und liebende Freundin Maltes/Rilkes nicht nur mit der klavierbegleitenden Vertonung gesungener Rilke-Gedichte, sondern auch oder gerade mit der unaufgeregten Intensität ihres Schauspiels. Bernhardt Jammernegg fasziniert mit seinem Charaktergesicht als alternder Rilke, der selbst tief von der Triebfeder des künstlerischen Schaffens durchdrungen zu sein scheint: Gefühl. Gebannt von der künstlerischen Leistung dieses kongenialen Rilke-Trios taucht der Zuschauer ein in die subjektive Wahrnehmungswelt einer empfindsamen Künstlerpersönlichkeit, die mit weit geöffneten Sinnessensoren der durchlebten Wirklichkeit schutzlos gegenübersteht – ein Mikrokosmos des Lebens in all seinen Facetten und ambivalenten Erscheinungsformen, der lange nachwirkt.

– Lina Bibaric ­­-

 

RM Rilke – wie ist es möglich, da zu sein?
Von Jakub Kavín

Mit Barbara Schandl, Bernhardt Jammernegg, Jakub Kavin

Theater Delphin, Blumauergasse 24, 1020 Wien
7., 8., 14., 15. und 17.  April 2018, jeweils 20 Uhr

Weitere Infos unter www.theaterarche.at

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Das semiotische Dreieck

In einem Kaffeehaus. Jeder Tisch ist besetzt. Die kunterbunt gemischten Gäste trinken, rauchen, essen, reden. Es herrscht eine entspannte, lebensfreundliche Atmosphäre. An einem gemütlichen Fenstertisch im Raucherraum wartet Astrid bereits auf Elisa. Eigentlich waren sie für 15 Uhr verabredet, doch jetzt ist es bereits 15 Uhr 20. Astrid wird zunehmend nervöser, zündet sich eine weitere Zigarette an und beobachtet angespannt, wie proportional mit jedem tief inhalierten Zug ihr Stimmungsbarometer sinkt. Da, endlich, betritt Elisa das Café.

Elisaaaa, heyyy, da bist du ja! Komm, lass dich drücken. Schön, dich zu sehen!

Bussi rechts, Bussi links. Astrid strahlt, Elisa leuchtet.

Heyyyyy, Astrid! Du, sorry, ich hab mich mit Max verquatscht, du weißt schon, der Typ aus der Galerie …

Ach, gar kein Problem! Ich sitz‘ doch gut hier. Hauptsache, du bist da!

Typisch Elisa, immer muss man auf sie warten. Das müsste ich mal bei ihr machen …

Die beiden Freundinnen setzen sich.

Und, Liebes? Was sollen wir trinken: Prosecco?

Jetzt schon?! Bissl früh, oder? —- Ach … hast Recht. HERR OBER, ZWEI PROSECCO, BITTE!

Vorgestern kam Elisa wieder mal zum abendlichen Yogakurs zu spät. Alle mussten nochmal neu anfangen, nur wegen ihr!

Astrid, ich hab‘ super Neuigkeiten!

Wer bin ich eigentlich, dass ich mir das gefallen lasse?

Du bist schwanger!

Quatsch, nein – ICH HAB DEN JOB!

Astrid schluckt. Sie muss an ihr eigenes Bewerbungsdesaster denken. Fünfzig Bewerbungen, Null Zusagen. Sie ringt um Fassung, jetzt bloß nicht das Gesicht verlieren, bitte recht freundlich.

Wow, Elisa, das ist ja toll! Gratuliere, ich freu mich ja so für dich!

Sie hat den Job, war ja klar. Dabei habe ich mir extra einen Coach geleistet, Interviewtrainings gemacht, meinen Lebenslauf gepimpt.

Wahnsinn, oder? Nach nur einer Bewerbung … ich bin sprachlos.

Und Elisa? Schreibt eine einzige Bewerbung und es klappt. Kein Wunder – sieht gut aus, hat ´nen coolen Freund und ´nen reichen Papa.

Hätte ich nie nie Nie NIEMALS gedacht. Zumal sich dort – das hat mir Vanessa gesteckt – wohl Hunderte beworben haben.

Na  d a s  Vorstellungsgespräch hätte ich gerne gesehen. Wahrscheinlich hat sie sich aufgebrezelt und dem Chef – Klimper, Klimper! – schöne Augen gemacht. Könnte ich nicht, sowas. Aber offenbar kommt man damit durch. Warum meint es das Leben nicht auch einmal gut mit mir?

Jetzt muss es endlich auch bei dir klappen, dann bin ich vollends happy! Komm, lass uns anstoßen. Auf den neuen Job, auf das Leben!

Wie bitte? „Endlich auch bei dir klappen“? Soll das etwa heißen, ich bin ein Looser?!

Na dann Prost, Elisa. Auf deinen neuen Job!

Als ob ich nichts zu bieten hätte! Ist denn ein Bachelor in Psychologie nichts? Plus einem Auslandsemester in Florenz und zwei Praktika!

Jetzt sag schon, Astrid – wie läuft‘s bei dir? Hast du dich schon bei Thomas gemeldet? Du weißt schon, der Typ aus der Werbeagentur, die eine Sachbearbeiterin sucht.

Elisa, ich glaube, dass ich als Sachbearbeiterin etwas überqualifiziert wäre.

Ach, ist doch nur ein Sprungbrett. Der berühmte Fuß in der Tür.

Die Frau Magister hat gut reden …

Aber ich habe doch auch ein Studium vorzuweisen!

Ja, aber… na ja, was soll ich sagen … mit einem Bachelor ist es halt ein bisschen schwerer. Aber – so what! Es braucht nicht jeder einen Magister.

Nicht jeder?! Bin ich etwa Krethi und Plethi? Wenn ich ehrlich zu mir bin, ärgert es mich natürlich schon, dass ich nicht noch die zwei Jahre Studium drangehängt habe. Immerhin war da dieser gut bezahlte Nebenjob, der hätte mir das Master-Studium locker finanziert. Stattdessen bin ich sechs Monate durch Südostasien gereist, danach noch eine Zeit lang durch Australien und Südafrika. Tja, wenigstens habe  i c h  die Welt gesehen!

Ach, ich habe einfach nur Glück gehabt. Es gibt so viele Leute, die auch ohne Titel Karriere machen!

Und warum hast du dann einen?

Einmal angefangen, wollte ich das Studium auch zu Ende machen. Halbe Sachen liegen mir nicht.

Schweigen. Eisiges Schweigen. Der Prosecco beginnt im Glas zu gefrieren.

HERR OBER, NOCH ZWEI PROSECCO, BITTE!

Astrid schaut Elisa verstohlen von der Seite an: Sie sieht heute gar nicht gut aus. Augenringe, Pickelchen, und dazu noch etwas aufgedunsen. Typische Abendschönheit.

Gut schaust heute aus, Elisa!

Überhaupt kommt ihr Gesicht so langsam in die Jahre. Komisch, ist mir vorher noch nie so aufgefallen, aber bei Tageslicht sieht man schon deutliche Knitterfältchen und auch ihre einst prallen Bäckchen beugen sich bereitwillig der Schwerkraft. Man bleibt eben nicht ewig jung und schön. Kann sie mal sehen, wie das ist.

Oh, Danke! Du aber auch, Astrid! Schickes Kleid, genau deine Farbe.

Hallo? Höre ich da einen sarkastischen Unterton?

Was? Nein! Ich mein’s ernst!

Ja klar. Wenn man das schon dazusagen muss, ist es mit der Ernsthaftigkeit bekanntlich nicht weit her.

Willst du etwa damit sagen, dass ich dich anlüge?

Das habe ich nicht gesagt.

Man muss nicht immer sagen, was man meint.

Woher willst du wissen, was ich gemeint habe? Kannst du Hellsehen?

Die Klamotten waren auch schon mal besser kombiniert. Immerhin, sie hat die Haare schön.

Ich kenn dich halt schon lange.

Offenbar nicht lang genug, denn so hab ich das sicher nicht gemeint.

Da! „Sicher nicht“ – schon wieder betonst du die Glaubwürdigkeit deiner Aussage!

Ja und? [Pause] Kann das sein, dass du heute a bissl streitsüchtig bist, Astrid?

Wie kommst du denn darauf? Ich war doch die ganze Zeit gut drauf! Jetzt allerdings nicht mehr.

Und das ist jetzt meine Schuld?

Nein, überhaupt nicht, gar nicht! Aber man wird doch wohl noch seine Meinung kritisch äußern dürfen!

Dann bist du heute aber ganz schön kritisch. Hand aufs Herz: Hast du wieder eine Job-Absage bekommen oder was ist los?

„Wieder“? Weil mich ja eh keiner nimmt?

Astrid. Das hab ich doch nicht gesagt!

Aber gedacht.

Woher willst du das wissen, was ich gedacht habe? Kannst du Hellsehen?

Elisa bebt innerlich. Wie der erste Sonnenaufgang in einem unbekannten Land dämmert in ihr eine Erkenntnis, die alles bisher zusammen Erlebte in ein beklemmendes, monochromes Licht taucht. ‚Wie eine Blinde, die auf einmal sehen kann‘, schießt es ihr in den Kopf. Aus dem Ozean gemeinsamer Erinnerungen drängt plötzlich ein Abend vor sechs Jahren an die Oberfläche ihres Bewusstseins. In diesem Stillleben der Vergangenheit sieht sie sich mit Astrid am runden Holztisch in der Küche ihrer damaligen Wohnung sitzen, bei einem Glas Rotwein, Jazz und vielen Zigaretten. Sie kennen sich erst seit einem Jahr, doch für Elisa fühlt es sich nach ‚schon immer‘ an, so vertraut ist ihr Astrid.

Nach dem zweiten Glas fasst sich Elisa ein Herz und erzählt Astrid zum ersten Mal von ihren Problemen mit dem Professor, dessen Assistentin sie einst war. Es war ihr allererster Job. Anfangs war sie so glücklich, trotz ihres Orchideenfachs und allen Unkenrufen kapitalgesteuerter Einzelkämpfer zum Trotz diese Stelle bekommen zu haben. Doch irgendwann wuchsen aus den vielen kleinen Sticheleien ungerechtfertigte Vorwürfe, was schließlich in peinlichen Anspielungen auf ihre weiblichen Attribute gipfelte und jeden neuen Arbeitstag zu einem neuen Angsttag werden ließen. Elisa erzählte also zum ersten Mal in ihrem Leben einem anderen Menschen von all ihren erlittenen Demütigungen, Respektlosig- und Anzüglichkeiten, wie sehr sie darunter leide und wie wenig sie damit umzugehen wisse. Sogar von den gesundheitlichen Folgen und deren strapaziöser Bewältigung. Wie aus einer geschüttelten Sektflasche sprudelten die Worte aus Elisa heraus und jedes endlich laut ausgesprochene Wort fühlte sich so wohltuend und heilsam an wie ein sauberes Heftplaster auf einer frischen Schnittwunde. Und was tat Astrid?

HERR OBER, EINEN MARILLENSCHNAPS, BITTE! Willst du auch einen?

Nein Danke, ich bin ja generell nicht so für Alkohol.

Aber für Prosecco?

Das ist nicht das Gleiche. Schnaps ist nicht meine Liga.

Und bin ich außerhalb deiner Liga, wenn ICH einen trinke?

Schweigen. Der Schnaps kommt. Er wird hektisch geext.

Astrid, du … ach … ich sag besser  nichts mehr, es wird ja sowieso alles gegen mich verwendet.

Ja, genau. Ich bin nur auf Streit aus und verdrehe dir immer jedes Wort im Munde.

Damals in der Küche sagte Astrid jedenfalls – nichts. Kein einziges Wort. Kein Tröstendes des Bedauerns, kein Wärmendes der Unterstützung. Keine Empathie, keine Spur des Mitfühlens, und wahrscheinlich auch nicht des Zuhörens (schon damals beschlich mich das Gefühl, mit meinen Ausführungen Astrids Geduld zu strapazieren: Zu oft irrte ihr Blick durch den Raum, zu oft schielten ihre Augen aufs Handy – natürlich nicht ohne sich gleich dafür zu entschuldigen). Als meine Erzählung endete, ergriff Astrid das Wort. Doch statt der inständig herbeigesehnten Leides-Teilung reklamierte Astrid das Attribut der Alleinleidenden für sich, indem sie eklektisch ihre eigenen, schlimmen Erfahrungen aufzählte. Wie dramatisch ihre Situation war, welche Opfer sie bringen musste, und wie froh sie war, von so guten Freunden aufgefangen worden zu sein. Sie erzählte und erzählte und erzählte nur von sich, sodass mein jüngst widerfahrenes, frisches Leid zur Gänze in ihrem längst Durchlebten aufging. Am Ende des Abends musste ich  s i e  trösten, obwohl ich selbst des Trostes bedurfte.

Damals vermutete ich noch Wortfindungsschwierigkeiten oder zwischenmenschliche Ungeschicktheit. Heute vermute ich mangelndes Selbstwertgefühl, das sich in Missgunst entlädt. Soll es den anderen doch auch mal schlecht gehen, nicht nur mir! Aber ich kann mich auch irren. Vielleicht bin ich heute einfach nur zu streng mit Astrid. Außerdem hasse ich Streit.

Weißt du was, Astrid? Wir zwei Hübschen sollen wir uns wieder mal was richtig Gutes gönnen. Lass uns doch shoppen gehen! Ein Friseurbesuch! Oder chic essen!

Oder vielleicht ein luxuriöses Wellnesswochenende in Dubai buchen? Holger hat schon Recht: Elisa ist ein verwöhntes Einzelkind.

Wäre schön, aber dazu fehlt mir im Moment das Geld.

Aber wer war ich dann die ganzen Jahre für Astrid – Seelentröster, Stilgeber, Kurzweiler? Freundin? Feindin? Der Boden unter meinen Füßen beginnt zu schwanken.

Ach, bitte, Astrid, ich lad‘ dich ein!

Als ob ich Elisas Almosen nötig hätte! Aber andererseits … sie hat ja genug Geld. Dazu der bestimmt gutbezahlte neue Job, der gutzahlende Papa, und ihr Typ verdient sicher auch nicht wenig. Überhaupt – ist Freundschaft denn nicht immer auch ein Geben und Nehmen? Und wenn der eine Freund weniger hat, warum sollte er nicht von dem nehmen, der mehr hat? Ist denn nicht gar Nehmen seliger als Geben?*

Ja, von mir aus. Können wir ja irgendwann mal machen.

Wieder Schweigen. Zigarette. Verlegenes Fingerkuppendurchzählen und sinnloses Haarlockendrehen.

Astrid, darf ich dich etwas fragen? Bitte verstehe mich jetzt nicht falsch, aber mir kommt es so vor, als ob ich da gerade bei dir auf eine Eisbergspitze gestoßen bin. Was willst du mir wirklich sagen? Heraus mit der Sprache – was ist los?

Es ist gar nichts, Elisa. Ich hab heute einfach nicht meinen besten Tag.

Betretenes Schweigen. Astrid kramt in ihrer Tasche. Elisa blickt aufs Handy, während sich auf ihrem Dekolletée rote Flecken bilden. In ihren Augen sammelt sich Flüssigkeit, die jeden Moment herauszuschwappen droht.

Ich dachte eigentlich, wir sind Freundinnen! Und gehört nicht zu den wesentlichen Eigenschaften einer Freundschaft, dass man einander Wohlwollen entgegenbringt?

Du glaubst, ich sei nicht wohlwollend?

Ja, das glaube ich.

Und woran machst du das fest?

An deinen Reaktionen auf mich.

Welche Reaktionen genau?

Zum Beispiel auf meinen neuen Job. Für mich bedeutet das so viel, und das weißt du. Nach allem, was mir damals widerfahren ist. Du erinnerst dich?

Woran?!

Na an die Geschichte mit dem schmierigen Professor, dessen Assistentin ich war – weißt du das nicht mehr? Es war in der Küche in meiner alten Wohnung in der Taubstummengasse, als ich dir von seinem demütigenden Verhalten erzählte, von seinen fadenscheinigen Anspielungen und dreisten Anzüglichkeiten.

Welcher Professor? [Pause] Ach DAS … geh bitte, das ist doch so viele Jahre her.

Für mich ist es wie gestern, weil es um etwas Grundsätzliches geht: Empathie. Du hast mir damals keinerlei Mitgefühl entgegengebracht. Schlimmer noch, du hast überhaupt nicht reagiert, sondern einfach deine Geschichte drübergelegt.

Drübergelegt?! Wie hätte ich denn deiner Meinung nach reagieren sollen? Mitleiden? Mitweinen? Was hätte das denn geändert?

Na ja, nicht gerade Mitweinen … ein paar Worte des ehrlichen Bedauerns hätten es auch getan. Ich hatte damals jedenfalls nicht das Gefühl, dich mit meiner Geschichte zu berühren. Daher frage ich dich heute: Warum freust du dich nicht für mich, wenn ich mich freue, warum tröstest du mich nicht, wenn ich traurig bin? Und – warum stellst du mir eigentlich keine Fragen?

Aber ich freu mich doch für dich, Elisa! Du verstehst das alles völlig falsch. Und jetzt genug von alten Problemen, lass uns zwei jetzt endlich auf deinen neuen Job anstoßen!

HERR OBER, NOCH ZWEI PROSECCO, BITTE!

Es gäbe noch viel zu sagen und noch mehr zu fragen, aber das Ungesagte besitzt der Aussage genug. Was ist das für eine Freundin, die jedem meiner Worte auflauert wie ein hungriger Wolf dem Lamm? Die sich in der semantischen Kehrseite ihrer Ethymologie suhlt, um diese letzterdings als Lanze gegen mich zu verwenden? War das je Freundschaft? Oder ist das schon Feindschaft?

Die Luft hier wird dünner. Ich muss weg von diesem lebensfeindlichen Ort. Will atmen, reinen Sauerstoff inhalieren, nicht an verpesteter Luft ersticken. Besser einsam im Reinen als gemeinsam alleine!

Nein, danke, Astrid, ich muss jetzt leider los.

Och, jetzt auf schon? Schade, wo wir doch so nett geplaudert haben. Aber ok, zahlen wir. Wann sehen wir uns?

Hab‘ diese Woche so viel zu tun, eventuell nächste Woche.

Ok, wir telefonieren.

HERR OBER, DIE RECHNUNG BITTE  … JA, ALLES ZUSAMMEN.

 

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*Aus der Bibel,  Apostelgeschichte 20, Vers 35

 

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Der Regenschirm

In einer lichtlosen Ecke des Raumes steht ein kleiner, blasser Regenschirm. Keiner weiß, wie lange er dort schon steht, woher er kommt und dass er überhaupt noch dort steht. Einst muss er leuchtend und farbenfroh gewesen sein, ein geschmackvoller Schirm, mit dem man sich gern zeigte und den man immer gern aufspannte, wenn die Regentropfen auf einen herunterprasseln wie zentnerschwere Steine. Das war die große Zeit des kleinen Schirms, als man noch Schutz unter seinem bunten, imprägnierten Stoffdach vor den Wassern des Lebens suchte. Damals freute sich der Schirm mit dem glänzenden Buchholzstock, gewertschätzt und gebraucht zu werden. Viele Jahre war er den Wasserscheuen ein treuer, geduldiger Begleiter, er lebte mit ihnen und den Ihren und glaubte, ein Teil von ihnen zu sein, wie sie ein Teil von ihm waren.

Da zog auf einmal über Nacht ein neuer Regenschirm in das steinerne alte Haus mit den vielen Räumen und Türen. Es war an einem dieser feuchtfröhlichen Abende im Wohnsalon, als der Bewohner des Hauses etwas zu Essen besorgen wollte. Draußen regnete es schon seit Stunden, unbemerkt von den Menschen drinnen. Da witterte ein von einem Gast mitgebrachter Schirm sofort seine Chance und bot sich schnell als Begleiter an, indem er sich ganz weit aufspannte und seine  ganze ausladende Pracht ungefragt zur Schau stellte. Dieser Schirm war allerdings nicht annähernd so facettenreich und geschmackvoll wie der kleine bunte Regenschirm. Zwar war der neue Schirm größer und schützte ebenso vor Wasser, doch statt handgewebter Baumwolle spannte sich über seine glänzenden Blechspeichen nur kurzlebiges Plastik. Dafür leuchteten seine aufgedruckten Farben umso greller – man könnte fast sagen: aufdringlich –, mittels derer der neue Schirm nicht nur alle Blicke an sich heftete, sondern auch die vielen anderen, leisen, subtileren Schattierungen und Nuancen innerhalb seines Ereignishorizontes absorbierte und dadurch größer wirkte, als er war. Dagegen hatte der kleine Regenschirm keine Chance. Immer öfter wurde er zu Hause vergessen. Und so wartete er in der lichtlosen Ecke des Raumes auf den Tag, an dem er sicher wieder gebraucht  würde. Aber niemand brauchte ihn mehr. Schließlich verblasste der kleine bunte Schirm und verkroch sich unter einer dicken Decke aus Staub und Spinnweben, bis er ganz vergessen wurde.

Der grelle Plastikschirm hingegen hatte die Gunst der Stunde raffiniert für sich genutzt und die Macht des großen Beschützers an sich gerissen, an die er sich klammert wie Gollum an den Einen Ring. Die Wasserscheuen jedoch, blind vor Verblendung, verkannten seine wahre Intention: Der schrille Schirm wollte in Wirklichkeit niemanden vor plötzlich einsetzendem Platzregen oder tagelang durchnässendem Nieselregen schützen; ihm ging es allein um die Abhängigkeit der Schutzsuchenden und seine uneingeschränkte Macht über sie. Clever, wie er war, glaubte er zu wissen:  Nur wer sich unentbehrlich macht, der bleibt. Also tat der gewiefte Plastikschirm gegenüber seinem ahnungslosen Besitzer immer genau das, was man von ihm erwartete und nahm sich ungeniert das, was ihm diente.

Der kleine Schirm hingegen wartete weiter still und unbemerkt in seiner Ecke, ohne zu wissen, ob man sich seiner erinnerte, ja ob es draußen überhaupt regnete. Er konnte es allenfalls erahnen und sich auf seine Intuition verlassen, die immer noch in jedem Faden seines langsam verblassenden Stoffes wohnte.  Dann spürte er den Regen, er spürte die schleichende Feuchtigkeit, die durch das Gemäuer der Wände bis ins Innerste dringt. Er spürte Hoffnung. In jenen Momenten malte er sich aus, wie er sich weit ausspannte und alle unter seinem dichtem bunten Regendach vereinte: Tiere, Pflanzen, ja sogar Menschen  –  sie alle wollte er davor schützen, von allen Wassern gewaschen zu werden! Wehmütig dachte er an die goldenen Zeiten. Wie frisch und klar und leicht es sich nach einem Schauer anfühlte, den der Beschützte trocken überstand! Wie leicht war alles vorbei.

Dann kam der Tag, an dem der grelle neue Schirm wieder einmal von seinem Besitzer ausgeführt wurde. Diesmal führte der Weg jedoch nicht an leuchtenden Schaufenstern und glatten Häuserfronten vorbei. Nein, diesmal führte der Weg quer durch den nieselregnerischen Herbstwald. Es duftete nach Laub und Leben, und die Äste und Sträucher versteckten sich in weichen milchigen Wattenebeln. Da bekam es der grelle Plastikschirm, der so gar nicht in die naturgeschützte Umgebung passte, auf einmal mit der Angst zu tun.  Ob seines empfindlichen Plastikdachs wurde er sich schlagartig seiner Endlichkeit bewusst. Doch es war zu spät. Und so kam es, wie es kommen musste: Die Dornen einer Schlehe bohrten sich schonungslos durch den Kunststoff des Regenschirms, und aus dem schützenden Dach wurde ein löchriges Sieb, durch das die bleischweren Regentropfen kalt und gnadenlos auf den Kopf des Schutzsuchenden rannen. Das war der Anfang vom Ende des Blenderschirms. Er verblasste, wurde brüchig und zerfiel, als sei er nie dagewesen.

Der kleine bunte Schirm jedoch wurde an einem regnerischen Junitag von der neuen Bewohnerin des alten Hauses wiederentdeckt, als sie auf einem ihrer Streifzüge durch die vielen Räumen den kleinen dunklen Raum im Souterrain betrat. Die freundliche Frau drehte den Lichtschalter auf und blickte fasziniert auf die vielen offenbar seit langem vergessenen Gegenstände in dem Raum mit den hohen Decken, der vielleicht einmal ein Arbeitszimmer gewesen war. Wie Alice im Wunderland stöberte die elegant gekleidete Dame mit glänzenden Augen in dem übereinandergestapelten Trödel, den wurmstichigen Kommoden, korbgeflochtenen Sesseln oder brüchigen Hutschachteln, stellte sich die Menschen vor, denen diese seelenvollen Dinge vor langer Zeit gehörten, ihre ureigenen Geschichten und gelebten Anekdoten, die sich um jeden einzelnen alten Gegenstand rankten, bis sie plötzlich aus einer dunklen Ecke des Raumes ein kleiner Regenschirm anlachte. Sie erkannte die Qualität des kleinen Beschützers auf den ersten, wohlwollenden Blick und befreite ihn behutsam von Staub und Spinnweben, bis die einst warmen leuchtenden Farben des Stoffes gemächlich wieder zu strahlen begannen. Seitdem freut sie sich auf den Regen und erfreut sich dankbar ihres loyalen, treuen Begleiters. Und wenn es einmal nicht regnet, schützt er sie sogar vor zu viel Sonne …

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Von AnfAngst an

Ein kleines Kind liegt in seinem Holzgitterbett. Es ist Nacht, durch scherenschnittschwarze Baumkronen drängt blasses Mondlicht in den finsteren Raum. Alles schläft, atmet schwer und sammelt sich für einen neuen, ungelebten Tag. Nur nicht das Kind. Es wälzt sich herum zwischen Daunenfedern, Kuscheltieren und Rotztüchern. Was es am Alpträumen hindert, ist ein durchdringendes Gefühl der Unruhe, das den Magen rhythmisch vibrieren lässt und die Halsschlagader hörbar macht. Was das Kind mit fünf noch nicht weiß: es hat Angst. Angst vor der Dunkelheit, vor dem Alleinsein in seinem Zimmer, vor dem Alleinsein auf dem riesigen, unverstandenen Planeten. Es blickt in den Nachthimmel. Wie groß ist das Universum? Die Sterne. Wie weit sind sie weg? Der Mond. Wie kann ich zu ihm reisen? Irgendwann will es wissen, warum es lebt. Was, wenn meine Eltern morgen tot sind? Sein Vater erklärt ihm den Himmel, nicht die Erde.

© Lina Bibaric

Haus im Kopf – Nizza
© Lina Bibaric

Das Kind wird älter, geht in den katholischen Kindergarten, begleitet die Großmutter in die Kirche. Hört zum ersten Mal vom Leib und Blut Jesu und stellt entsetzt fest, dass man beides schlucken muss. Das versteht das Kind nicht. Auch in der Grundschule bekommt es keine Antwort auf seine vielen Fragen. Stattdessen singt es fromme Lieder unter der geschundenen Leiche am hölzernen Kreuz. Dann beginnt der Kommunionsunterricht. Das Kind erfährt zum ersten Mal von teuflischen Verrätern und reuigen Sündern, von schwachen Frauen und starken Männern. Und von einem Mann, der für dich, Dich, ja DICH allein gestorben ist. Aber ich habe ihn doch nicht darum gebeten! Ein strenger Gottesdiener lehrt das unverdorbene Kind Buße, Bescheidenheit und Demut. Immer heiter, Gott hilft weiter. Lehrt es zu Beten und zu Beichten. Was soll ich denn beichten, mit Neun? Also erfindet das wohlerzogene Kind seine Sünden. Es lernt zu lügen. Paradoxe Intervention auf Anweisung von oben? Habe 50 Pfennig Wechselgeld vom Bäcker behalten! Gott der Herr schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden. Ich habe gesündigt. Es lernt die 10 Gebote. DU SOLLST AN EINEN GOTT GLAUBEN. Warum? Wer alles glaubt, musst nichts mehr wissen. Wie praktisch, wie manipulierbar, Generalschlüssel zum christlichen Erfolg. DU SOLLST KEIN FALSCHES ZEUGNIS GEBEN. Was heißt das, Herr Pfarrer? DU SOLLST NICHT LÜGEN. Aber …? Wirst du ins Fegefeuer geworfen. Keine weiteren Fragen, euer Ehren.

So werden unsere blühendsten Entdeckerjahre von lebendiger Angst getrübt. Das mit der Nächstenliebe wird nicht näher erläutert, es geht um Schuld und Sühne. Und weil du von Geburt an schuldig bist, hast du etwas auf dem Kerbholz, von dem du als dummes Kind natürlich noch nichts weißt. So wirst du zum schuldlosen Sünder. Fühlst dich schuldig für die Tränen deiner Mutter, die Enttäuschung deines Vaters. Meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld. Du hast Angst vor dem Fegefeuer, Angst vor Satan, Angst vor Pfaffen, Angst vor dem Vater, Angst vor der Mutter. Also musst du dich ergeben und demütig sein und darfst ab sofort Niemandem mehr vorm Zubettgehen den Schlafanzug zerknoten, denn das ist Sünde! Der liebe Gott sieht schließlich alles. Das Christentum, heilige Mutter aller Ängste.

Dann gehst du zur Schule. Die Angst geht mit dir. Vor den Noten, vor den Lehrern, vor dir selbst. Du wächst heran. Beginnst dich für dein Äußeres zu interessieren, das dir grundlegend missfällt. Und auf einmal hast du Angst vor den Blicken und Urteilen der anderen. Verkleidest dich unter sonderbaren Kleidern ohne dein Selbst zu erkennen. Findest dich hässlich in deiner grobgerasterten Wahrnehmung, die noch nicht feinjustiert ist. Als das Abitur droht, verdrehen dir achtzehn Jahre alte, sorgengereifte Ängste den Kopf und entbinden die Versagensangst. Verzweifelt prügelst du Second-Hand-Wissen bis zur Erschöpfung in dein vernebeltes Hirn, bis du in der mündlichen Prüfung neben dir sitzt und hilflos beobachten musst, wie dein autarker Mund falsch Gewusstes reproduziert. Trotzdem bestehst du. Was nun? Studieren? Arbeiten? Nichts interessiert dich am Berufsleben. Zu jung für professionelles Altsein.

Also studierst du. Stehst plötzlich allein in der riesigen Uni. Geworfenheit, Leere. Keiner hilft dir, keiner weist dir den Weg. Dabei willst du doch nur weitergehen. Du blätterst durchs 800 Seiten dicke Vorlesungsverzeichnis, liest die Titel der Lehrveranstaltungen. Du verstehst sie nicht, wie also sollst du die Kursinhalte verstehen? Du fühlst dich minderwertig, die Angst vor dem Dummsein lacht hämisch an deinem Ohr, bis dein Bauch sich für die richtigen Vorlesungen entscheidet, sogar die richtigen Menschen auf jugendlich mäandernden Um- und Abwegen. Auch dein Privatleben mäandert. Du hast gescheiterte Beziehungen, andere haben Beziehungen, die scheitern. Man tauscht sich aus, vergleicht, beschreibt, urteilt, analysiert, spekuliert. Freundschaften werden geschlossen und gelöst. Du stürzt dich von Party zu Party, von Rausch zu Rausch, drei Tage die Woche, acht Stunden am Tag. Tune in turn on drop out. Weißt alles und nichts. Erkennst die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, von Hineinrufen und Herausschallen. Vom Antun und nicht Angetan-werden-wollen. Interessierst dich für Yoga und Ayurveda, Ashanas und Nagchampas. Bestehst von einem Tag zum Nächsten, Nebeltage eines interimistischen Lebens. Zwischendurch beißt du dich durch den akademischen Wissensbeton wie ein hungriger Biber durch Pappelstämme. Aber hinter dem Damm lauert bereits die junge Prüfungsangst. Du glaubst sie in den Griff zu bekommen. Nichts greift. Also lenkst du dich ab, liegst wach (größeres Bett, keine Gitter), lernst. Dann die Prüfung. Du zitterst, stotterst, zweifelst, aber du bestehst. Du könntest dich freuen, die Befreiung vom Korsett der auferlegten Wahrheit feiern, würde nicht die Zukunftsangst schon auf dich warten. Vorbei die Zeiten des Müßiggangs, der durchfeierten Nächte und verschlafenen Tage. Jetzt droht die nackte Existenz mit ihren unerbittlichen Fragen. Womit wirst du dein Geld verdienen? Wie wirst du dein Leben finanzieren? Wer braucht dich? Was brauchst du? Da stehst du nun, in der Tasche den Magister – zwei Orchideenfächer, ein Massenfach – aber keinen einzigen Cent. Die Angst raunt dir Teuflisches ins Ohr. Endlose Schwarzprosa allgegenwärtiger ontologischer Gefahr. Kein Geld, keine Arbeit, keine Wohnung, kein Urlaub, keine Platten, kein Drink in der Lieblingsbar, Endstation Hoffnung.

Du schluckst alles hinunter und bewirbst dich auf den ersten Job. Die erste Absage trägst du mit Fassung, die zweite lachst du weg, aber mit der dritten bröckelt deine zerbrechlich große kleine Welt und die effizient programmierte algorithmische Existenzangst übernimmt das Ruder. Um nicht auf der Straße zu enden, machst du ein Praktikum nach dem anderen. Versprichst dir viel von falschen Versprechungen. Dann endlich, der erste, bezahlte Job. Und an seiner Seite, die Angst vor dem Jobverlust. Dass man ausgerechnet dir diese großartige Chance gegeben hat! Dir, DIR! Wo doch alle anderen alles besser können als ich. Also sei dankbar, sei fügsam! Dixit Algorismi. Du versklavst dich ein, zwei, drei Jahre, bleibst ein austauschbares Rädchen im statischen Machtgetriebe. Hast Erfolge, die dir immer wieder gern missgönnt werden. Hast dich selten einsamer gefühlt, allein unter Mittelmäßigen, die deinen machtgeilen Chef umkreisen wie weiße Zwerge das schwarze Loch. Selbsternannte Weltretter, die nur sich selbst retteten, und ein einäugiger Machiavelli unterm Regenbogen der Blinden. Am Anfang willst du sie entblößen, die nett Maskierten, ihr durchschaubares Kalkül mit immer dickeren Schichten wasserfester Theraterschminke retuschierend, durch die deine kritischen Augen hindurchdringen wie Grashalme durch Asphalt. Du willst kämpfen gegen die Windmühlen der flachen Hierarchie, Fata Morgana der Gutgläubigkeit. Doch du bist allein unter Missgünstlingen, Selbstdarstellern, Weltverschlimmerern. Der Sauerstoff im Luftschloss wird toxisch; Angst zu ersticken.

Auf dem Weg zur Arbeit sitzt du in der U-Bahn zwischen lauter Ichs und zerfledderten Gratiszeitungen. Du setzt deine Kopfhörer auf, ziehst dir wirre Sounds rein, liest ein Buch und verkriechst dich in deinen provisorischen Individualkokon. Trennst Innenwelt von Außenwelt, durch die der Sturm fönt. Zeichen der globalen Erderwärmung? Du mitleidest mit all den Menschen, deren Häuser in den Fluten versinken. Dass man überhaupt der Empathie fähig ist, bevor die Menschheit ausstirbt. Was deiner Meinung nach in spätestens 100 Jahren der Fall sein wird, wenn nicht schon eher. Vorher willst du aber noch viel reisen, möglichst CO2-Neutral. Außerdem wird Fliegen sowieso immer gefährlicher. Was, wenn man abstürzt, von Fanatikern entführt, gar in die Luft gesprengt wird? Auch im Zug ist dir oft ganz mulmig zumute, seit du an einem bedrohlich heißen Sommertag im U-Bahnschacht stecken geblieben bist. Auf einmal roch es komisch. Chemisch, irgendwie. Giftgas, wie damals in der U-Bahn von Tokio? Ein Pawlow’scher Hund ist immer wachsam. Das Zweirad ist für dich auch keine Alternative. Zu hektisch der Straßenverkehr, allein die vielen Löcher im Asphalt, der Rollsplit, die Öllaken. Die Risse in der Brücke. Das Verletzungsrisiko. Überhaupt gewinnt mit jedem Lebensjahr die Gesundheit an Stellenwert. Allein die Angst vor den E’s in Lebensmitteln. Also planst du für deinen nächsten Einkauf im Biosupermarkt immer eine halbe Stunde länger ein, zwecks Studiums der Inhaltsstoffe via Codecheck. Nach der obligatorischen Gesundenuntersuchung verschreibt dir der Hausarzt deines Misstrauens Medikamente, die du brav beim Wucherapotheker um die Ecke statt günstig im Internet kaufst. Du weißt schon, die Angst vor gefälschten Medikamenten aus Fernost.

Überhaupt, die Angst und das Internet, virtuelles Füllhorn irrationalster Ängste, liaison dangereuse. Datenklau. Phishing. Cybermobbing. Spionagetrojaner. NSA. 1.000.000.000 Virenangriffe pro Tag. Virale Angst, und du mittendrin, mit deinen social-medial verschenkten Daten, FruchtGlasFliege auf dem Weg zum nächsten faulen Apfel, verheddert im weltweiten Spinnennetz. Du drehst das WLAN ab und dich im Kreis. Läufst eine Runde um den Block, um wieder geradeaus zu sehen. Kommst nicht weit, weil ein plakativer Aufruf mit sechs Großbuchstaben in dir die nächste, brandneue Angst generieren will. Am Abend schaltest du den Fernseher an. Siehst Krieg, Hunger, Naturkatastrophen, ertrinkende Menschen im Mittelmeer, Terroranschläge, Ölteppiche. Versinkende Inseln, gerodete Wälder, aussterbende Tiere, bedrohte Pflanzen, schmelzende Gletscher, verendende Kinder und verzweifelte Mütter. Multiplikatoren der Angst, gezapptes Grauen. Angst, die um sich beißt wie ein tollwütiger Köter, von der die Aasgeier profitieren und dich ausrauben mit teuer bezahlten Sicherheitsmauern aus billigem Pappmaché. In diesem engmaschigen Beklommenheitsgeflecht versuchst du dir mit der Machete der Zuversicht deinen Weg zu bahnen. Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, warnt dein Verstand. Gefahr erkannt, Gefahr verkannt.

© Lina Bibaric

Winterabend im Wienerwald – Austria.
© Lina Bibaric

Irgendwann wird dir das alles zu viel. Die Stadt, der Job, das angsterfüllte Leben. Du willst raus, weg, dorthin, wo nur genommen, was gebraucht und nur gebraucht, was gegeben wird. In dir erwacht eine schneewittchenhafte Ahnung von jenem Ort, den du als Kind geliebt und als Erwachsener vergessen hast. Warum, auch. Aber du erinnerst dich, du erinnerst dich an Dich. Und plötzlich liegst du einfach da, findest dich wieder inmitten der ungemähten Wildblumenwiese. Allein, allein mit dir selbst, nicht unter Menschen. Aber es ist ein neues Allein, ein ALL-ein, ganz ohne Angst, die du ignorierst wie die Zecken und Insekten und FSMEs und Borreliosen und stattdessen deine Aufmerksamkeit auf die Margeriten, den Storchschnabel und den blühenden Klee richtest. Den Liedern der Meisen und Finken, den flüsternden Gesprächen der Buchen und Eichen lauscht. Die unbezahlten Stunden vergisst und dich geschenkter Sekunden erfreust. Du bist eins mit dir, dem Himmel, den Wolken, ja sogar den Zecken und Insekten. Und auf einmal ist die verlorene Zeit wieder da und du galoppierst sattellos auf jungen Pferden durch die endlosen Wälder, den Wind der Unbekümmertheit um die Ohren. Du wühlst beim Spielen mit den Händen im Dreck und beißt anschließend herzhaft in einen wahrscheinlich gespritzten Apfel. Bretterst freihändig auf deinem klapprigen FaltFahrrad bergab und später zu dritt auf einem frisierten Moped über Feldwege, Echo eines sorgenfreien Lebens ohne den hässlichen alten Affen. Du atmest tief, tiefer und entspannst jedes Glied deines angespannten Körpers. Allmählich wird es hell. Der neue, noch ungelebte Tag liegt dir zu Füßen. Du entscheidest, dich zu freuen. Es fühlt sich fremd und zugleich vertraut an, wie sich die ungebremsten Glücksmoleküle in dir verteilen und die Angstpartikel nach und nach ersetzen. Du wirst lernen, damit umzugehen.

Ja, Angst hattest du schon damals, im Holzgitterbrett. Aber es war eine andere Angst, es war die Angst eines fragenden Kindes, das keine Antworten bekam. Heute bekommst Du zu viele.

 

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Mensch unter Menschen

Es ist kalt, nass und grau an diesem Dezembertag. Durch überdekorierte Strassen treiben namenlose Zeitgenossen, eingepackt in dicke Schals und Echtfellpudelmützen, den Blick konzentriert nach unten auf den Monitor des neuesten Smartphones gerichtet. Alles blinkt und schimmert, lasiert die Gedanken. Wie Statisten in einem überdimensionierten Weihnachtswerbespot schlängeln sich die Massen durchs austauschbare Winterwunderland. Es riecht nach Glühwein, Zimt und Stress. Am Schwedenplatz halte ich inne, wartend, frierend, allein. Ich ärgere mich, wieder einmal der Temperatur nicht gerecht gekleidet zu sein. Zu wenig Wollanteil im Mantel, zu wenig Leder am Schuh. Jingle bells, jingle bells, jingle all the way. Ich zittere, chic eingepackt, aber mit erstarrten Zehen. Worauf warte ich? I’m dreaming of a white christmas. Mir wird schlecht. Alles dreht, alles vergeht. Im Kaffeehaus ist es warm und überfüllt. Ich finde einen freien Platz am Tisch neben der Küche und bestelle ein Bier. Wie immer, wenn ich alleine ein Lokal betrete und kein Buch zur Hand habe, sucht mein Blick ein Zuhause, um nicht verloren zu wirken. Früher griff ich in solchen Situationen zur Zigarette. Heute lese ich das Horoskop auf dem Zuckerbeutel, ist eh gesünder. Studiere die Speisekarte zum dritten Mal. Gehe schließlich zum Zeitungstisch und fische nach dem einzigen halbwegs seriösen Politmagazin des Landes. Gelangweilt blättere ich durch die schreienden Seiten mit den knallig negativen Überschriften. Krieg, Krankheit, Katastrophen, die drei K‘s der Neuzeit. Als ob es ein Verbrechen wäre, über etwas Schönes zu berichten.

Der ältere Herr am Nebentisch liest die Zeitung, hinter der in unregelmäßigen, rhythmischen Abständen der Qualm eines Zigarillos aufsteigt. An der rechten Hand fehlt dem Herrn ein Finger, wie mir auffällt, als ich versuche, die Überschrift eines Einspalters seiner Tageszeitung zu entziffern. Seine Schuhe sind kalbsledern und rahmengenäht, der weinrote Pullover aus Kaschmir, der Ehering breit und golden – wohl doch kein Arbeitsunfall, der verlorene Finger. Als er grimmig zu mir rüberschaut, flieht mein Blick nach links, direkt in die durchsichtigen Augen einer dünnen jungen Frau. Die Augen einer Verlassenen. Die Frau im teuren Hosenanzug schaut ins Nichts, das friseurfrisierte blonde Haar adrett ihr gemeißeltes Gesicht umrahmend, aus dem Verzweiflung spricht. Klimawandel, Terror, Geiselnahmen, Konsumrausch – wann wird aus meinem Gesicht die Verzweiflung sprechen? Am Fenstertisch redet eine Mutter auf ihre beiden Kinder ein, 5 und 8. Der kleine Jonathan bemalt den Tisch mit Edding, während die kleine Sophie die Servietten zerreißt. Mummy ist das Wurscht, schließlich sollen die beiden Hochbegabten als erfolgreiche Individualisten Karriere machen. Mein Magen verkrampft sich. Satzfetzen, Kaffeemaschine und Kellnerschmäh verkleben zu einem akustischen Einheitsbrei, meine Augen beginnen zu brennen. Zwei Tische weiter unterhalten sich zwei Maturanten. Der eine mit rotblonden Struwelpeterhaaren, verblasstem Kapuzenpulli und schelmischem Augenpaar, der andere mit Undercut, Segelschuhen und Collegeblazer. Netzwerksessions versus Tanzschule. Rucksackurlaub in Asien versus Segeltörn in der Karibik. Kiffen versus Komasaufen.

Doch irgendwie versteht man sich, man redet miteinander. Ich meine echtes, gehaltvolles Reden, nicht den bloßen Austausch sinnentleerter Phrasen. Warum interessieren sich nur so wenige Menschen für andere? Geistige Anteilnahme im ethymologischen Sinne? Wohlwissend, entweder keine oder zuviele Antworten auf meine rhetorische Frage zu bekommen, bestelle ich noch ein Bier. Bereits nach dem zweiten Schluck spüre ich diese teenagerhafte Unbefangenheit in mir aufsteigen. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Gelassenheit dehnt sich in mir aus wie ein abgekühlter Stern. Ich schwebe im samtigen Dunkel aus unendlichem Schwarz. Die Welt um mich herum zerfällt nach und nach in ihre Atome. Erst meine Füße, dann meine Hände, fühlen sich warm und schwer an, eine allumfassende Wohligkeit breitet sich aus, fast daunige Schläfrigkeit wabert durch meinen gesamten Körper, bis mich ein spürbar bohrender Blick in die Alltagsrealität zurückwirft. Ich drehe mich in die gefühlte Richtung und pralle gegen die giftig starrenden Augen einer würdelos alternden Frau mit runtergezogenen Mundwinkeln. Hab ich mir das Kleid vollgekleckert? Hab ich die Frau vorhin versehentlich angerempelt? Oder ist es schlicht mein Dasein, das die andere in ihrer missgünstigen Selbstgefälligkeit stört? Warum interessiert es mich überhaupt, ob irgendeine verbitterte Furie ihren Frust an andere heften will? Ich weiß es nicht – nur, dass sich meine anerzogene Höflichkeit in solchen Situationen als Fluch entpuppt, denn statt eines kecken „Is was?“ schaue ich verschämt in die entgegengesetzte Richtung. Eine schlechte Wahl, denn aus eben jener grinst just in diesem Moment ein dicker Mitfünziger mit Silberblick schmierig in meine. Mir wird das hier alles zuviel, ich zahle und gehe.

Draußen tobt der vorfesttägliche Wahnsinn, als gäbe es kein Morgen. Es wird gedrängelt, gedrückt, zur Seite gestoßen, geschimpft. Auf dem Weg zur Bahn nehme ich intuitiv einen Weg, den ich noch nie zuvor gegangen bin. Plötzlich stehe ich vor einem großen Fenster, das eine vergilbte uralte Gardine vor zugereisten Blicken ins Innere schützt. Daneben ist eine alte Tür als gebogenem Glas, dahinter ein Windfang aus dunkelgrünem Filz. Ein kleines Lokal, so einladend ein Lokal nur sein kann. Keine Werbung, keine Beleuchtung, kein Image. Ich trete ein. Die Rauchwaben trüben den Blick in den Raum wie die nikotingetränkten Gardinen das Fenster. In dem kleinen Gastraum mit den verblassten Fotografien und den seltsamen Spielkarten an der Decke stehen nur vier dunkle Holztische. Fast jeder Platz ist besetzt von Herren und Damen älteren Jahrgangs, die freundlich in meine Richtung schauen und mir bedeuten, Platz zu nehmen. Ich setze mich an den Bistrotisch neben dem Ausgang, zücke mein Notizbuch und bestelle ein Bier. Einer der Herren dreht sich zu mir um und prostet mir unaufdringlich zu. Er stellt sich namentlich vor, ich lächele, und nach einer Weile stellt sich jeder jedem vor und mit einem Mal unterhalten wir uns, mehr noch – wir reden, reden über Rühm, Bayer, die Wiener Gruppe, Jandl, Achleitner, über die Stadt im Allgemeinen und das, was ihren Reiz ausmacht, im Speziellen, bis die semantischen Wogen sachte verebben und wieder zu einer wohlig schaukelnden Fläche werden. Und auf einmal schreibe ich das erste Wort, die erste Zeile eines Gedichtes, die fast spielerisch zu Papier wird. Die Damen beobachten mich wohlwollend. Keine Spur von Missbehagen und Niedertracht in ihren klugen Augen, nur Spuren von gelebtem und gelerntem Leben um ihre lächelnden Münder. Ich fühle mich wohl, als Mensch unter Menschen.

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Renate und die Macht der Liebe

[Vorsicht, Kölsch!]

Der Kellner bringt noch ein Bier. Dialektgeschwängerte Sprachfetzen wabern durch den holzgetäfelten Raum. Es riecht nach Rauch, Schweiß und Einfalt. Der Stammtisch rechts neben der Theke ist vollbesetzt. „Prost Manfred, uff uns“. Karl-Heinz schreckt mit glasigen Augen aus dem Minutenschlaf: „Prostata, so jung kümm mir nisch mehr zusammen“. Günther rülpst anerkennend. Dicke Bäuche buhlen unterm Rippenleiberl um bewundernde Blicke. Renate bestellt ein Kölsches Gedeck, das dritte heute Nachmittag, Schnaps und Bier auf Ex. Gläserklappern auf gelber Kacheltheke. Klaus lallt den ‚Puppenspieler von Mexiko‘. Renate klammert sich benommen an die Rückenlehne des gedrexelten Barhockers, wobei ihre Gold-Creolen am Zinn-Aschenbecher hängen bleiben. Sie schreit auf. Der rettende Griff zur ERNTE hält die Labilität stabil. Wummerndes Trommeln von draußen. „Wann sin die Tünnesse da drusse endlich fäädisch? Jedes Johr dä gleiche Driss“. Manfred blökt in Richtung Theke. „Die schwule Pitta do nemme langsam Überhand“. Aus bierseliger Trägheit wird a(lk)gressive Erregtheit. „Jenau, janz Kölle is nur nochene Homostadt! Die solle ma wiedä in de Kirsch jon“, rät der schlaue Stammtisch. Renate spürt den Schwindel in ihr aufsteigen. Ein Bein steht fest am Boden, das andere verheddert mit dem Korkplateau im Drexelhocker. Sie will gehen, stolpert und torkelt hinaus. „Tschüss, Lück, ich jank heim“.

Draußen tobt das blanke Chaos. Halbnackte Männer in Lederchaps prosten Renate lachend zu. Eine 2 Meter 20 große Transe kitzelt sie mit Federboa am Doppelkinn. Renate will weg. Sie versucht zu rennen, bis sie über den losen Kopfsteinpflaster der maroden Altstadtgasse stolpert. Sie verliert das Gleichgewicht und stürzt direkt in die Arme eines vollbärtigen Kerls. Ihre Augen leuchten stärker als ihr lila Lidschatten, als sie in seine braunen Augen schaut. So hat sie es sich in ihren geheimsten Träumen immer vorgestellt, als kleines Mädchen in Köln-Porz, als sie sich von ihrem Taschengeld ihren allerersten Groschenroman gekauft hat. Als sei es gestern gewesen! Ne, was hat sie geschwärmt für den gutaussehenden Chefarzt Dr. Stramm! Wie er mit seinem galantem Charme, dem seidigen Haaren und gepflegt-gebräunten Händen mit dunkler, sonorer Stimme (genau so stand es geschrieben) um die Gunst der feschen Silvia buhlte! „Dat issene richtije Kavalier, so en richtijes Mannsbild, nit sone warme Bruda“, schoss es ihr durch den benebelten Kopf, als sie nun in den Armen des unbekannten Retters lag, „jenau wie dä Dr. Stramm“. Benommen von Sturz und Erkenntnis stammelt Renate ein rauchiges „jenau so“ in Richtig Dr. Stramms und versucht, den vom vielen Bütze verschmierten Mund zu einem möglichst anmutigen Lächeln zu verziehen.

Der Unbekannte nickte aufmunternd, ohne ein Wort zu sagen. Renate verschlägt es den alkigen Atem. Sie musste diesen magischen Augenblick hinauszögern, egal wie. Nur wie? Ihr fällt ein, wie Silvia das Herz von Dr. Stramm für sich gewann. „Jenau, ich täusch ene Schwächeanfall vör“, denkt sich Renate gewieft. Unter Einfluss dieses tückischen Plans versucht sie sich aufzurappeln. Und in dem Moment, als sie ihren massigen Körper erfolgreich in die Luft wuchtet, lässt sie sich jeglicher Eleganz entbehrend zu Boden sinken. Der Unbekannte hat alle Mühe, sie festzuhalten, und stämmt sich zwischen Renate und das Kopfsteinpflaster. „Jetzt nur net die Ooge uffmache“, konzentriert sich diese,  in ihrer doch unbequemen Position verharrend. Der imaginäre Dr. Stramm starrt die Unbekannte hilflos an, legt ihren Kopf auf sein Knie und tätschelt ihre Wangen. „Jo jenau“, glüht Renate innerlich und verliert sich in wieder ihren Jungmädchenfantasien, als Männer noch richtige Kerle und Frauen noch Objekte der Begierde waren, mit roten Rosen und selbstgeschriebenen Gedichten verwöhnt. Jedenfalls so lange, bis man verheiratet war. Und wie sie so da liegt und schwelgt und träumt und sehnt, vernimmt sie plötzlich eine Männerstimme. „Kommst du endlich, Marco?“, erklingt es ungeduldig zischend hinter ihr. „Ja, gleich, ich muss nur die Frau hier wieder auf die Beine bringen“, hört sie neben ihrem rechten Ohr, „dann bin ich wieder bei dir, Hase“. Renate reißt die Augen auf. Dicht über sie gebeugt steht ein zweiter Mann, der so gar nicht in ihr liebevoll gehegtes Groschenromanbild passt. Schlank, schwarze Lederhose, rotes Holzfällerhemd, schwarzes Halstuch, Schnäuzer. Die Hand dieses fremden Mannes liegt auf der Schulter von Dr. Stramm, ihres Dr. Stramm!, der diesem wiederum kokett zuzwinkert. Renate hat genug gesehen. Benommen rappelt sie sich auf, nuschelt ein undeutliches „Danke“ und stolpert in die nächstbeste Kneipe.

„Kölsches Jedeck, bitte“, ruft sie dem Wirt zu, setzt sich auf den gepolsterten Barhocker in die Ecke und zündet sich eine ERNTE an. Der Wirt lächelt sie freundlich an. „Na, Liebschen, du siehst ja so bedröppelt aus. Komm, wir zwei Hübschen trinken nen Prosecco zusammen. Prösterchen!“. Renate nimmt zögernd das Glas. Sie stoßen an, er reißt einen Witz, sie lachen, das Eis ist gebrochen, man versteht sich. Nach dem fünften Glas tanzt sie auf dem Tresen und grölt I AM WHAT I AM aus vollem Hals. Ihrer lilafarbenen Blumenmusterbluse mit den animalischen Glitzerapplikationen fehlen zwei Goldknöpfe, die Leggings hängt auf halb acht und ihre gesträhnten Sauerkrautlöckchen kleben schweißnass an der Stirn. Renate ist glücklich. „Eijentlisch han ich janix gegen Schwule“, lallt sie glucksend ins Ohr des Wirten, als sie um 5 Uhr morgens fröhlich die Kneipe verlässt.

© Lina

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