Friedrich Nietzsches ECCE HOMO
Inszeniert von Franziska Koger
Gespielt von Jakub Kavin
Vertont von Markus Baumgartner und Andreas Zemann
Von Lina Bibarič
Würde man Nietzsche mit einem hinduistischen Gott vergleichen, käme wohl nur Shiva in Frage – Zerstörer und Erneuerer, Gott der Asketen. Dem Mythos nach versank Shiva nach dem Tod seiner Frau Sati in eine tiefe Meditation, aus die ihn nichts herausholen konnte, bis ihn die altruistische Liebe einer Frau namens Parvati aus dem spirituellen Dornröschenschlaf erweckte. Auf eine derartige Frau hatte Friedrich Nietzsche ein Leben lang gewartet. Glaubte er sie in Lou Andrea Salomé einst gefunden zu haben, blieb ihm stattdessen nur die als Geschwisterliebe getarnte Berechnung seiner antisemitischen Schwester Elisabeth. Die Frau, die nach seinem Tod 1900 seine Tagebücher nach Gusto ihrer eigenen politisch-ideologischen Weltanschauung verfälschte und schließlich veröffentlichte.
Doch immer der Reihe nach, und die beginnt mit der Geburt von Friedrich Nietzsche am 15. Oktober 1844 in einem Dorf der preußischen Provinz Sachsen. Nach dem Tod seines Vaters, dem lutherischen Pfarrer Carl Ludwig Nietzsche wächst klein Friedrich in einem kleinbürgerlich-christlich geprägten Frauenhaushalt mit Mutter Franziska, Schwester Elisabeth und zwei jungfräulichen Tanten auf. Nach seiner Schulausbildung im Eliteinternat Schulpforta in Naumburg beginnt er sein Studium der Philologie und der evangelischen Theologie an der Universität Bonn. Inspiriert von den Schriften Hegels, Feuerbachs sowie Bruno Bauers Evangelienkritiken, bricht Nietzsche das theologische Studium schon nach einem Semester desillusioniert ab. Doch auch die Studienbedingungen in der Rheinprovinz sind für den einsamen Freigeist nicht optimal – was ihn motivierte, dem Ruf seines Professors Friedrich Ritschl nach Leipzig zu folgen, bis er schließlich im Jahr 1869 mit nur 25 Jahren zum außerordentlichen Professor für klassische Philologie nach Basel berufen wird. Nietzsche legt die preußische Staatsbürgerschaft ab und bleibt Zeit seines Lebens staatenlos. Inzwischen hat er Richard Wagner kennengelernt, von dem er sich, enttäuscht von der „Niveaulosigkeit“ der ersten Bayreuther Festspiele 1876, nach sieben Jahren wieder abwendet – ein Freundschaftsbruch, der in radikale Abneigung umschlagen und fast wie ein böses Omen die folgenden Jahre überschatten soll. Denn Nietzsche wird zunehmend von Krankheiten heimgesucht. Migräneanfälle, Magenstörungen und immer stärker werdende Kurzsichtigkeit bis hin zur Fast-Blindheit führen 1879 zu seiner vorzeitigen Pensionierung.
Was retrospektiv von Vorteil für seine philosophisch-literarische Entwicklung ist: immer auf der Suche nach den für seinen Zustand optimalen Lebensbedingungen, reist Nietzsche bis 1889 als freier Schriftsteller quer durch Europa. Den Sommer verbringt er meist im schweizerischen Sils-Maria, im Winter lebt er in Italien. 1882 lernt er schließlich endlich seine “Sati” kennen. Lou Andrea Salomé war die einzige Frau, der Nietzsche jemals einen Heiratsantrag machte, beziehungsweise über seinen Freund Paul Rée ausrichten ließ. Eine Frau, die in betagteren Jahren noch Rainer Maria Rilke den Kopf verdrehen sollte. Doch die zarte Bande zu Lou wird durch Intrigen seiner Schwester und weiter eskalierender Krankheit Nietzsches jäh zerstört. In dieser suizidbelasteten Zeit entsteht sein berühmtestes Werk „Also sprach Zarathustra“. Als Nietzsche 1889 einen geistigen Zusammenbruch erleidet, bringt ihn sein Freund Franz Overbeck in die Irrenanstalt von Basel, von der aus ihn seine Mutter in die psychiatrische Universitätsklinik Jena verlegt. Nannte man als Ursache für Nietzsches immer schlechter werdenden Zustand „Paralyse aufgrund von Siphilis“, würde man heute wahrscheinlich eher von Burnout oder Psychosomatischen Schockzuständen sprechen. Was auch immer die Ursache für seine zeitweiligen Dämmerzustände gewesen sein mag – sie ermöglichten seiner (eigentlich geistig verwirrten) Schwester, 1893 das sogenannte „Nietzsche-Archiv“ zu gründen und sich ganz seiner Schriften zu ermächtigen. Nach mehreren Schlaganfällen starb Nietzsche, der vom böswilligen Treiben seiner Schwester nichts mehr mitbekam, am 25. August 1900 in Naumburg.
Doch Nietzsche, Urheber berühmter wie tausendfach fehlinterpretierter Sätze wie „Gott ist Tot“, „ich glaube, weil ich vernunftlos bin“ oder „wenn du eine Frau besuchst, vergiss die Peitsche nicht“, schied nicht aus dieser Welt, ohne auf seine ganz ihm eigene Art und Weise eben mit dieser abzurechnen. Eine Abrechnung in Buchform, eine Abrechnung in messerscharfer Prosa, die zwischen 1888 und seinem geistigen Zusammenbruch von 1889 entstand: ECCE HOMO – WIE MAN WIRD, WAS MAN IST – ein Titel, der schon in der Überschrift zwei Anspielungen enthält. So soll, will man der Bibel Glauben schenken, Pontius Pilatus „Ecce Homo“ (Sehet, ein Mensch!) über Jesus Christus gesagt haben, während der zweite Teil des Titels auf den griechischen Dichter Pindar zurückgeht, der in den Phytischen Oden „werde, der du bist“ an Denkwillige appellierte.
Die Tiefgründigkeit des Titels lässt nur erahnen, mit welchen ontologischen Geniestreichen die LeserIn in den folgenden 134 Seiten Text zu rechnen hat. Denn nicht nur die Kapiteltitel strotzen nur so vor fehlinterpretationsgefährdeter, da nach Überheblichkeit anmutender Rhetorik: „Warum ich so weise bin“, liest die entsetzte LeserIn da, und wird, kaum erholt vom Schock der Anmaßung, gleich mit der nächsten Semantikkeule titels „Warum ich so klug bin“ überrumpelt, bis er/sie spätestens beim Kapitel „Warum ich so gute Bücher schreibe“ gewillt ist, das Buch echauffiert aus der Hand zu legen. Was ein Fehler wäre, denn dieses Buch ist eine scharfzüngige bis messerscharfe Attacke auf den schlechten Geschmack, auf kleinbürgerliche Ignoranz, gutgläubigen Gottesdevotismus, kleingeistige Deutschtümelei, spießbürgerliches Pseudokunstverständnis. Kurz auf alles, was Dummheit und unselbstständiges Denken bis dato jemals hervor gebracht hat. Im Zentrum stehen dabei einerseits die Kritik an Moral und Religion …
„Das, was die Menschheit bisher ernsthaft erwogen hat, sind nicht einmal Realitäten, blosse Einbildungen, strenger geredet, Lügen aus den schlechten Instinkten kranker, im tiefsten Sinne schädlicher Naturen heraus – alle die Begriffe „Gott“, „Seele“, „Tugend“, „Sünde“, „Jenseits“, „Wahrheit“, „ewiges Leben.“ (Warum ich so klug bin)
… anderseits die eigene menschlich-allzumenschliche Unverstandenheit, Zerissenheit, Ungeliebtheit, Einsamkeit, entsprungen aus einem unzeitgemäßen Geist, der viel zu jung für eine viel zu alte Welt war. Und immer noch ist.
Diese autobiographischen, zeitlos ontologischen Verzweiflungsrufe sind es, die in Franziska Kogers szenischer Inszenierung des ECCE HOMO im Vordergrund stehen. Der Mensch Friedrich Nietzsche, gespielt von Jakub Kavín, wird dabei in ein intermediales Umfeld aus Raum, Rezitation und Musik hineininterpoliert. Die ZuschauerIn wird geworfen in eine Situation, die sie mit dem Leiden des jungen Nietzsche unmittelbar und körperlich teilt. Es gibt keine Bühne; man sitzt entlang der vier Wände des Raumes um eine Mitte herum, in welcher Nietzsche seine sprachgewaltigen Langzeiterkenntnisse schreit, fleht, flüstert, spuckt, stöhnt, hechelt, atmet – sitzend oder schreitend, liegend oder schwimmend – getrieben von Rastlosigkeit und der erfolglosen Suche nach Aufrichtigkeit, Anerkennung und Authentizität unter Menschen. Markus Baumgartner und Andreas Zehmann untermalen diese eindringlichen Szenarien mittels Synthesizern, E-Gitarren, Effektgeräten, Trommeln und anderem schlagfähigen Material live in einem experimentellen, stimulierenden Soundmosaik. Als ZuschauerIn wird man ganz nebenbei zum parsprototischen Adressaten der subjetiv- und doch objektiven Anklage Nietzsches, was nicht ohne Folgen für die eigene Reflexionsfähigkeit bleibt. Und auch nicht bleiben soll. „Die Kraft steckt in der Qualität“, hätte Nietzsche zu dieser Performance gesagt.