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zwEins.

Bevor sie wusste, wer sie heute ist, ahnte sie nicht, wer sie einmal sein wird. Aber sie spürte, dass das Universum etwas für sie bereithält, das bedeutender, harmonischer, erfüllter war als das, was sie kannte. Ein neues Leben, gleich einem sich immerfort ausdehnenden Mosaik aus zusammenhängenden Situationsbausteinen, dessen Gesamtbild sie allenfalls erraten konnte. Früher ergaben die Dinge erst retrospektiv einen Sinn, als ob die Gegenwart für die Vergangenheit lebte und sich auf ihrem steinigen Weg zur bleibenden Erinnerung in einem Labyrinth aus intuitionsgesteuerten Sackgassen verlor. Was blieb, war der inständig herbeigesehnte, seltene Augenblick, in dem sich die Sinne weiteten und der Mund schloss, um endlich zu schweigen; zu viel wurde schon gesagt. Dann, in diesen wenigen stillen Momenten sensibilisierter Wahrnehmung, hinter gepanzerten Türen zur Außenwelt, öffnete sich sachte das Füllhorn einer gut gehüteten Innenwelt, in der das Unbedeutende bedeutsam wird.

In jenen destillierten Momenten liebte sie den Regen. Immer wenn es regnete, beobachtete sie die Wasserfäden, die wie Linien aus Glas den Horizont in kleinste Teilchen zerschneiden und die Dächer in glänzende Spiegelmatrizen verwandeln. Regen bedeutet Freiheit. Nichts müssen zu müssen. Nicht mehr die endlichen Stunden eines viel zu kurzen Tages mit nutzlosen Dingen zu verschwenden. Nicht mehr die rückwärts laufende Zeit mit gewieften Zeitdieben zu verspielen. Regen verwandelt SchönwetterHektik in dahinplätschernde Muße. Immer, wenn es regnete, rauchte sie.

Sie liebte den Rauch. Die filigranen Fäden der sich im Luftzug auflösenden Schleier, in denen sie Dinge erkannte, die nur wenige wahrnahmen. Wie sich der Rauch verändert, vermischt und wieder auseinanderflieht, sich in Lichtstrahlen in zerfließende Skulpturen verwandelt, um gemächlich eins zu werden mit den Milliarden Molekülen der ihn umgebenden Atmosphäre. Wohin zieht die Flamme der Kerze, die erlischt? Sie behielt ihre kreisenden Gedanken stets für sich, zu groß war das Misstrauen vor dem Nichtverständnis derer, deren Urteil den Schaffenden niemals interessieren darf.

Und sie funktionierte, acht Stunden täglich auf dem medialen Straßenstrich einer maroden Hochglanzgesellschaft. Ein Mensch als nachwachsende Ressource, born to be sold. Am Tage schrieb sie leere Phrasen für bedeutungslose Produkte einer dem Verfall preisgegebenen Scheinwelt. Erstarrte Routine, Retortenrhetorik, im Akkord produziert, in toxischer Umgebung konsumiert. Schwarze Buchstaben auf grellem Weiß, Serifenzeugen des sterbenden Augenblicks, écriture automatique einer durchautomatisierten Welt.

Sie fühlte sich ausgeschlossen. Am Abend vereinsamte sie im Kreise derer, deren Welt sie nicht teilte. Dahinsiechende, Kapitulierende vor dem Leben, das nicht überlebt. Und sie, Überlebende eines implodierenden Versuchsplaneten, Luftwurzler auf verdorrten Böden wie gehärteter Granit vor umgekipptem Wattenmeer. Zusammen einsamer als allein.

Sie wusste um die Fehlbarkeit in ihrem Dasein, und doch war sie ganz bei sich, wenn sie durch die Straßen streifte und das Leben der Anderen atmete, das durch die vielen Fenster nach draußen diffundiert. Dann fragte sie sich, was die anderen Menschen jetzt tun. Jetzt, in genau diesem Augenblick. Wer vermisst, wer vergisst? Wer lügt, wer betrügt? Wer weint, wer lacht? Träumt, versäumt? Verzweifelt, vertraut? Verliebt sich, verlässt sich? Erlischt oder wird geboren? Kopfkino der Emphatie.

Aber sie hoffte – und diese Hoffnung war der Treibstoff ihres Daseins –, dass es irgendwo da draußen jemanden gibt, der ihre Sprache spricht. Einen Muttersprachler des Feinsinns, Obermaß unter Mittelmäßigen, einen Zwischen-den-Zeilen-Leser, der in vertrauten Gedanken denkt, einen Sehenden unter Blinden, der mit ihren Augen schaut. Einen Erwachten, der sie aus ihrem Dämmerschlaf weckt. Aber wie konnte sie nach ihm suchen, wenn sie das Finden nicht beherrschte? Wie konnte sie finden, ohne zu wissen, wonach sie suchte?

Und so lebte sie weiter im Gestern aus Angst vor dem Morgen, konjugierte die Zukunft aus Angst vor dem Präsens. Doch niemand las ihre Worte, die kathartisch aus ihren Fingern flossen. Fast schämte sie sich ihrer – sie, die so viele schöne Worte kannte, vor denen, die so viel schönere Worte kannten. Aber sie schrieb, schrieb von Regen und Rauch, von der Synchronizität des Lebens, von der Suche nach richtigen Worten zu richtigen Zeiten, vom Wohlwollen und Endlichgutwerden. Sie schrieb gegen die Wand, ohne das ermutigende Gefühl, das Richtige zu tun, ohne Aussicht auf Widerhall.

Bis zu jenem Tag, der ihr Lebensmosaik fragmentierte und neu zusammensetzte. Jenem Tag, an dem sie in der weiten digitalen Welt auf beispiellose Zeilen stieß. Wer war der Verfasser jener eigentümlichen Metaphern und anarchischen Syntaxen? Wer wagt es, die Zutaten aus Silben und Satzzeichen, Präfixen und Suffixen, so furchtlos durcheinanderzuwirbeln und mit der musikalischen Genialität eines Ligeti zu komponieren, das daraus etwas derart Unerhörtes entsteht, ein Sprachkunstwerk, das versehentlich die geistige Schönheit seines Verfassers enthüllt?

Sie wollte, – nein, sie musste! – es wissen. Mit wiederentdecktem Urvertrauen schrieb sie ihm, der – da war sie sich zum ersten Mal ganz sicher – anders war als alle anderen.

Eines Tages bekam sie Antwort. Nicht eine, sondern mehrere, immer mehr einnehmende, entzückende Antworten, verpackt in derart unerwartete, nährende Sprachbilder, welche von Erfahrungen künden, die vom Fahren kommen, von Erwartungen, die das Gegenteil von Hoffnung sind, von Panthern, deren Blick „vom Vorübergehen der Stäbe so müd geworden ist“*.  Diamantene Gedanken, facettenreich geschliffen von einem Humor, der vom Denken kommt.

Sie schrieben einander digital und fanden zueinander analog, zwei Sporen in einem „Meer aus Pusteblumen“**, auf fruchtbaren Boden sinkend und ineinander verwurzelnd, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Bereit, gemeinsam zu blühen. Bereit, gemeinsam zu welken. Zwei Suchende, vereint im Gefundensein, verewigt in der Gegenwart.

Sie erkannte den Sinn. Ohne zu zögern und mit der inneren Sicherheit einer Gläubigen verließ sie die schlafende Stadt und erwachte im Land der Berge. Ohne Angst vor der Zukunft, ohne Verlorensein in der Vergangenheit.

Sie wusste, sie tat das Richtige.
Er wusste, sie ist die Richtige.

Aus Eins wurde Zwei wurde …

zwEins.

Anmerkungen:

*Rainer Maria Rilke: Der Panther

**kollaps;mpuls

 

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Das semiotische Dreieck

In einem Kaffeehaus. Jeder Tisch ist besetzt. Die kunterbunt gemischten Gäste trinken, rauchen, essen, reden. Es herrscht eine entspannte, lebensfreundliche Atmosphäre. An einem gemütlichen Fenstertisch im Raucherraum wartet Astrid bereits auf Elisa. Eigentlich waren sie für 15 Uhr verabredet, doch jetzt ist es bereits 15 Uhr 20. Astrid wird zunehmend nervöser, zündet sich eine weitere Zigarette an und beobachtet angespannt, wie proportional mit jedem tief inhalierten Zug ihr Stimmungsbarometer sinkt. Da, endlich, betritt Elisa das Café.

Elisaaaa, heyyy, da bist du ja! Komm, lass dich drücken. Schön, dich zu sehen!

Bussi rechts, Bussi links. Astrid strahlt, Elisa leuchtet.

Heyyyyy, Astrid! Du, sorry, ich hab mich mit Max verquatscht, du weißt schon, der Typ aus der Galerie …

Ach, gar kein Problem! Ich sitz‘ doch gut hier. Hauptsache, du bist da!

Typisch Elisa, immer muss man auf sie warten. Das müsste ich mal bei ihr machen …

Die beiden Freundinnen setzen sich.

Und, Liebes? Was sollen wir trinken: Prosecco?

Jetzt schon?! Bissl früh, oder? —- Ach … hast Recht. HERR OBER, ZWEI PROSECCO, BITTE!

Vorgestern kam Elisa wieder mal zum abendlichen Yogakurs zu spät. Alle mussten nochmal neu anfangen, nur wegen ihr!

Astrid, ich hab‘ super Neuigkeiten!

Wer bin ich eigentlich, dass ich mir das gefallen lasse?

Du bist schwanger!

Quatsch, nein – ICH HAB DEN JOB!

Astrid schluckt. Sie muss an ihr eigenes Bewerbungsdesaster denken. Fünfzig Bewerbungen, Null Zusagen. Sie ringt um Fassung, jetzt bloß nicht das Gesicht verlieren, bitte recht freundlich.

Wow, Elisa, das ist ja toll! Gratuliere, ich freu mich ja so für dich!

Sie hat den Job, war ja klar. Dabei habe ich mir extra einen Coach geleistet, Interviewtrainings gemacht, meinen Lebenslauf gepimpt.

Wahnsinn, oder? Nach nur einer Bewerbung … ich bin sprachlos.

Und Elisa? Schreibt eine einzige Bewerbung und es klappt. Kein Wunder – sieht gut aus, hat ´nen coolen Freund und ´nen reichen Papa.

Hätte ich nie nie Nie NIEMALS gedacht. Zumal sich dort – das hat mir Vanessa gesteckt – wohl Hunderte beworben haben.

Na  d a s  Vorstellungsgespräch hätte ich gerne gesehen. Wahrscheinlich hat sie sich aufgebrezelt und dem Chef – Klimper, Klimper! – schöne Augen gemacht. Könnte ich nicht, sowas. Aber offenbar kommt man damit durch. Warum meint es das Leben nicht auch einmal gut mit mir?

Jetzt muss es endlich auch bei dir klappen, dann bin ich vollends happy! Komm, lass uns anstoßen. Auf den neuen Job, auf das Leben!

Wie bitte? „Endlich auch bei dir klappen“? Soll das etwa heißen, ich bin ein Looser?!

Na dann Prost, Elisa. Auf deinen neuen Job!

Als ob ich nichts zu bieten hätte! Ist denn ein Bachelor in Psychologie nichts? Plus einem Auslandsemester in Florenz und zwei Praktika!

Jetzt sag schon, Astrid – wie läuft‘s bei dir? Hast du dich schon bei Thomas gemeldet? Du weißt schon, der Typ aus der Werbeagentur, die eine Sachbearbeiterin sucht.

Elisa, ich glaube, dass ich als Sachbearbeiterin etwas überqualifiziert wäre.

Ach, ist doch nur ein Sprungbrett. Der berühmte Fuß in der Tür.

Die Frau Magister hat gut reden …

Aber ich habe doch auch ein Studium vorzuweisen!

Ja, aber… na ja, was soll ich sagen … mit einem Bachelor ist es halt ein bisschen schwerer. Aber – so what! Es braucht nicht jeder einen Magister.

Nicht jeder?! Bin ich etwa Krethi und Plethi? Wenn ich ehrlich zu mir bin, ärgert es mich natürlich schon, dass ich nicht noch die zwei Jahre Studium drangehängt habe. Immerhin war da dieser gut bezahlte Nebenjob, der hätte mir das Master-Studium locker finanziert. Stattdessen bin ich sechs Monate durch Südostasien gereist, danach noch eine Zeit lang durch Australien und Südafrika. Tja, wenigstens habe  i c h  die Welt gesehen!

Ach, ich habe einfach nur Glück gehabt. Es gibt so viele Leute, die auch ohne Titel Karriere machen!

Und warum hast du dann einen?

Einmal angefangen, wollte ich das Studium auch zu Ende machen. Halbe Sachen liegen mir nicht.

Schweigen. Eisiges Schweigen. Der Prosecco beginnt im Glas zu gefrieren.

HERR OBER, NOCH ZWEI PROSECCO, BITTE!

Astrid schaut Elisa verstohlen von der Seite an: Sie sieht heute gar nicht gut aus. Augenringe, Pickelchen, und dazu noch etwas aufgedunsen. Typische Abendschönheit.

Gut schaust heute aus, Elisa!

Überhaupt kommt ihr Gesicht so langsam in die Jahre. Komisch, ist mir vorher noch nie so aufgefallen, aber bei Tageslicht sieht man schon deutliche Knitterfältchen und auch ihre einst prallen Bäckchen beugen sich bereitwillig der Schwerkraft. Man bleibt eben nicht ewig jung und schön. Kann sie mal sehen, wie das ist.

Oh, Danke! Du aber auch, Astrid! Schickes Kleid, genau deine Farbe.

Hallo? Höre ich da einen sarkastischen Unterton?

Was? Nein! Ich mein’s ernst!

Ja klar. Wenn man das schon dazusagen muss, ist es mit der Ernsthaftigkeit bekanntlich nicht weit her.

Willst du etwa damit sagen, dass ich dich anlüge?

Das habe ich nicht gesagt.

Man muss nicht immer sagen, was man meint.

Woher willst du wissen, was ich gemeint habe? Kannst du Hellsehen?

Die Klamotten waren auch schon mal besser kombiniert. Immerhin, sie hat die Haare schön.

Ich kenn dich halt schon lange.

Offenbar nicht lang genug, denn so hab ich das sicher nicht gemeint.

Da! „Sicher nicht“ – schon wieder betonst du die Glaubwürdigkeit deiner Aussage!

Ja und? [Pause] Kann das sein, dass du heute a bissl streitsüchtig bist, Astrid?

Wie kommst du denn darauf? Ich war doch die ganze Zeit gut drauf! Jetzt allerdings nicht mehr.

Und das ist jetzt meine Schuld?

Nein, überhaupt nicht, gar nicht! Aber man wird doch wohl noch seine Meinung kritisch äußern dürfen!

Dann bist du heute aber ganz schön kritisch. Hand aufs Herz: Hast du wieder eine Job-Absage bekommen oder was ist los?

„Wieder“? Weil mich ja eh keiner nimmt?

Astrid. Das hab ich doch nicht gesagt!

Aber gedacht.

Woher willst du das wissen, was ich gedacht habe? Kannst du Hellsehen?

Elisa bebt innerlich. Wie der erste Sonnenaufgang in einem unbekannten Land dämmert in ihr eine Erkenntnis, die alles bisher zusammen Erlebte in ein beklemmendes, monochromes Licht taucht. ‚Wie eine Blinde, die auf einmal sehen kann‘, schießt es ihr in den Kopf. Aus dem Ozean gemeinsamer Erinnerungen drängt plötzlich ein Abend vor sechs Jahren an die Oberfläche ihres Bewusstseins. In diesem Stillleben der Vergangenheit sieht sie sich mit Astrid am runden Holztisch in der Küche ihrer damaligen Wohnung sitzen, bei einem Glas Rotwein, Jazz und vielen Zigaretten. Sie kennen sich erst seit einem Jahr, doch für Elisa fühlt es sich nach ‚schon immer‘ an, so vertraut ist ihr Astrid.

Nach dem zweiten Glas fasst sich Elisa ein Herz und erzählt Astrid zum ersten Mal von ihren Problemen mit dem Professor, dessen Assistentin sie einst war. Es war ihr allererster Job. Anfangs war sie so glücklich, trotz ihres Orchideenfachs und allen Unkenrufen kapitalgesteuerter Einzelkämpfer zum Trotz diese Stelle bekommen zu haben. Doch irgendwann wuchsen aus den vielen kleinen Sticheleien ungerechtfertigte Vorwürfe, was schließlich in peinlichen Anspielungen auf ihre weiblichen Attribute gipfelte und jeden neuen Arbeitstag zu einem neuen Angsttag werden ließen. Elisa erzählte also zum ersten Mal in ihrem Leben einem anderen Menschen von all ihren erlittenen Demütigungen, Respektlosig- und Anzüglichkeiten, wie sehr sie darunter leide und wie wenig sie damit umzugehen wisse. Sogar von den gesundheitlichen Folgen und deren strapaziöser Bewältigung. Wie aus einer geschüttelten Sektflasche sprudelten die Worte aus Elisa heraus und jedes endlich laut ausgesprochene Wort fühlte sich so wohltuend und heilsam an wie ein sauberes Heftplaster auf einer frischen Schnittwunde. Und was tat Astrid?

HERR OBER, EINEN MARILLENSCHNAPS, BITTE! Willst du auch einen?

Nein Danke, ich bin ja generell nicht so für Alkohol.

Aber für Prosecco?

Das ist nicht das Gleiche. Schnaps ist nicht meine Liga.

Und bin ich außerhalb deiner Liga, wenn ICH einen trinke?

Schweigen. Der Schnaps kommt. Er wird hektisch geext.

Astrid, du … ach … ich sag besser  nichts mehr, es wird ja sowieso alles gegen mich verwendet.

Ja, genau. Ich bin nur auf Streit aus und verdrehe dir immer jedes Wort im Munde.

Damals in der Küche sagte Astrid jedenfalls – nichts. Kein einziges Wort. Kein Tröstendes des Bedauerns, kein Wärmendes der Unterstützung. Keine Empathie, keine Spur des Mitfühlens, und wahrscheinlich auch nicht des Zuhörens (schon damals beschlich mich das Gefühl, mit meinen Ausführungen Astrids Geduld zu strapazieren: Zu oft irrte ihr Blick durch den Raum, zu oft schielten ihre Augen aufs Handy – natürlich nicht ohne sich gleich dafür zu entschuldigen). Als meine Erzählung endete, ergriff Astrid das Wort. Doch statt der inständig herbeigesehnten Leides-Teilung reklamierte Astrid das Attribut der Alleinleidenden für sich, indem sie eklektisch ihre eigenen, schlimmen Erfahrungen aufzählte. Wie dramatisch ihre Situation war, welche Opfer sie bringen musste, und wie froh sie war, von so guten Freunden aufgefangen worden zu sein. Sie erzählte und erzählte und erzählte nur von sich, sodass mein jüngst widerfahrenes, frisches Leid zur Gänze in ihrem längst Durchlebten aufging. Am Ende des Abends musste ich  s i e  trösten, obwohl ich selbst des Trostes bedurfte.

Damals vermutete ich noch Wortfindungsschwierigkeiten oder zwischenmenschliche Ungeschicktheit. Heute vermute ich mangelndes Selbstwertgefühl, das sich in Missgunst entlädt. Soll es den anderen doch auch mal schlecht gehen, nicht nur mir! Aber ich kann mich auch irren. Vielleicht bin ich heute einfach nur zu streng mit Astrid. Außerdem hasse ich Streit.

Weißt du was, Astrid? Wir zwei Hübschen sollen wir uns wieder mal was richtig Gutes gönnen. Lass uns doch shoppen gehen! Ein Friseurbesuch! Oder chic essen!

Oder vielleicht ein luxuriöses Wellnesswochenende in Dubai buchen? Holger hat schon Recht: Elisa ist ein verwöhntes Einzelkind.

Wäre schön, aber dazu fehlt mir im Moment das Geld.

Aber wer war ich dann die ganzen Jahre für Astrid – Seelentröster, Stilgeber, Kurzweiler? Freundin? Feindin? Der Boden unter meinen Füßen beginnt zu schwanken.

Ach, bitte, Astrid, ich lad‘ dich ein!

Als ob ich Elisas Almosen nötig hätte! Aber andererseits … sie hat ja genug Geld. Dazu der bestimmt gutbezahlte neue Job, der gutzahlende Papa, und ihr Typ verdient sicher auch nicht wenig. Überhaupt – ist Freundschaft denn nicht immer auch ein Geben und Nehmen? Und wenn der eine Freund weniger hat, warum sollte er nicht von dem nehmen, der mehr hat? Ist denn nicht gar Nehmen seliger als Geben?*

Ja, von mir aus. Können wir ja irgendwann mal machen.

Wieder Schweigen. Zigarette. Verlegenes Fingerkuppendurchzählen und sinnloses Haarlockendrehen.

Astrid, darf ich dich etwas fragen? Bitte verstehe mich jetzt nicht falsch, aber mir kommt es so vor, als ob ich da gerade bei dir auf eine Eisbergspitze gestoßen bin. Was willst du mir wirklich sagen? Heraus mit der Sprache – was ist los?

Es ist gar nichts, Elisa. Ich hab heute einfach nicht meinen besten Tag.

Betretenes Schweigen. Astrid kramt in ihrer Tasche. Elisa blickt aufs Handy, während sich auf ihrem Dekolletée rote Flecken bilden. In ihren Augen sammelt sich Flüssigkeit, die jeden Moment herauszuschwappen droht.

Ich dachte eigentlich, wir sind Freundinnen! Und gehört nicht zu den wesentlichen Eigenschaften einer Freundschaft, dass man einander Wohlwollen entgegenbringt?

Du glaubst, ich sei nicht wohlwollend?

Ja, das glaube ich.

Und woran machst du das fest?

An deinen Reaktionen auf mich.

Welche Reaktionen genau?

Zum Beispiel auf meinen neuen Job. Für mich bedeutet das so viel, und das weißt du. Nach allem, was mir damals widerfahren ist. Du erinnerst dich?

Woran?!

Na an die Geschichte mit dem schmierigen Professor, dessen Assistentin ich war – weißt du das nicht mehr? Es war in der Küche in meiner alten Wohnung in der Taubstummengasse, als ich dir von seinem demütigenden Verhalten erzählte, von seinen fadenscheinigen Anspielungen und dreisten Anzüglichkeiten.

Welcher Professor? [Pause] Ach DAS … geh bitte, das ist doch so viele Jahre her.

Für mich ist es wie gestern, weil es um etwas Grundsätzliches geht: Empathie. Du hast mir damals keinerlei Mitgefühl entgegengebracht. Schlimmer noch, du hast überhaupt nicht reagiert, sondern einfach deine Geschichte drübergelegt.

Drübergelegt?! Wie hätte ich denn deiner Meinung nach reagieren sollen? Mitleiden? Mitweinen? Was hätte das denn geändert?

Na ja, nicht gerade Mitweinen … ein paar Worte des ehrlichen Bedauerns hätten es auch getan. Ich hatte damals jedenfalls nicht das Gefühl, dich mit meiner Geschichte zu berühren. Daher frage ich dich heute: Warum freust du dich nicht für mich, wenn ich mich freue, warum tröstest du mich nicht, wenn ich traurig bin? Und – warum stellst du mir eigentlich keine Fragen?

Aber ich freu mich doch für dich, Elisa! Du verstehst das alles völlig falsch. Und jetzt genug von alten Problemen, lass uns zwei jetzt endlich auf deinen neuen Job anstoßen!

HERR OBER, NOCH ZWEI PROSECCO, BITTE!

Es gäbe noch viel zu sagen und noch mehr zu fragen, aber das Ungesagte besitzt der Aussage genug. Was ist das für eine Freundin, die jedem meiner Worte auflauert wie ein hungriger Wolf dem Lamm? Die sich in der semantischen Kehrseite ihrer Ethymologie suhlt, um diese letzterdings als Lanze gegen mich zu verwenden? War das je Freundschaft? Oder ist das schon Feindschaft?

Die Luft hier wird dünner. Ich muss weg von diesem lebensfeindlichen Ort. Will atmen, reinen Sauerstoff inhalieren, nicht an verpesteter Luft ersticken. Besser einsam im Reinen als gemeinsam alleine!

Nein, danke, Astrid, ich muss jetzt leider los.

Och, jetzt auf schon? Schade, wo wir doch so nett geplaudert haben. Aber ok, zahlen wir. Wann sehen wir uns?

Hab‘ diese Woche so viel zu tun, eventuell nächste Woche.

Ok, wir telefonieren.

HERR OBER, DIE RECHNUNG BITTE  … JA, ALLES ZUSAMMEN.

 

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*Aus der Bibel,  Apostelgeschichte 20, Vers 35

 

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Der Regenschirm

In einer lichtlosen Ecke des Raumes steht ein kleiner, blasser Regenschirm. Keiner weiß, wie lange er dort schon steht, woher er kommt und dass er überhaupt noch dort steht. Einst muss er leuchtend und farbenfroh gewesen sein, ein geschmackvoller Schirm, mit dem man sich gern zeigte und den man immer gern aufspannte, wenn die Regentropfen auf einen herunterprasseln wie zentnerschwere Steine. Das war die große Zeit des kleinen Schirms, als man noch Schutz unter seinem bunten, imprägnierten Stoffdach vor den Wassern des Lebens suchte. Damals freute sich der Schirm mit dem glänzenden Buchholzstock, gewertschätzt und gebraucht zu werden. Viele Jahre war er den Wasserscheuen ein treuer, geduldiger Begleiter, er lebte mit ihnen und den Ihren und glaubte, ein Teil von ihnen zu sein, wie sie ein Teil von ihm waren.

Da zog auf einmal über Nacht ein neuer Regenschirm in das steinerne alte Haus mit den vielen Räumen und Türen. Es war an einem dieser feuchtfröhlichen Abende im Wohnsalon, als der Bewohner des Hauses etwas zu Essen besorgen wollte. Draußen regnete es schon seit Stunden, unbemerkt von den Menschen drinnen. Da witterte ein von einem Gast mitgebrachter Schirm sofort seine Chance und bot sich schnell als Begleiter an, indem er sich ganz weit aufspannte und seine  ganze ausladende Pracht ungefragt zur Schau stellte. Dieser Schirm war allerdings nicht annähernd so facettenreich und geschmackvoll wie der kleine bunte Regenschirm. Zwar war der neue Schirm größer und schützte ebenso vor Wasser, doch statt handgewebter Baumwolle spannte sich über seine glänzenden Blechspeichen nur kurzlebiges Plastik. Dafür leuchteten seine aufgedruckten Farben umso greller – man könnte fast sagen: aufdringlich –, mittels derer der neue Schirm nicht nur alle Blicke an sich heftete, sondern auch die vielen anderen, leisen, subtileren Schattierungen und Nuancen innerhalb seines Ereignishorizontes absorbierte und dadurch größer wirkte, als er war. Dagegen hatte der kleine Regenschirm keine Chance. Immer öfter wurde er zu Hause vergessen. Und so wartete er in der lichtlosen Ecke des Raumes auf den Tag, an dem er sicher wieder gebraucht  würde. Aber niemand brauchte ihn mehr. Schließlich verblasste der kleine bunte Schirm und verkroch sich unter einer dicken Decke aus Staub und Spinnweben, bis er ganz vergessen wurde.

Der grelle Plastikschirm hingegen hatte die Gunst der Stunde raffiniert für sich genutzt und die Macht des großen Beschützers an sich gerissen, an die er sich klammert wie Gollum an den Einen Ring. Die Wasserscheuen jedoch, blind vor Verblendung, verkannten seine wahre Intention: Der schrille Schirm wollte in Wirklichkeit niemanden vor plötzlich einsetzendem Platzregen oder tagelang durchnässendem Nieselregen schützen; ihm ging es allein um die Abhängigkeit der Schutzsuchenden und seine uneingeschränkte Macht über sie. Clever, wie er war, glaubte er zu wissen:  Nur wer sich unentbehrlich macht, der bleibt. Also tat der gewiefte Plastikschirm gegenüber seinem ahnungslosen Besitzer immer genau das, was man von ihm erwartete und nahm sich ungeniert das, was ihm diente.

Der kleine Schirm hingegen wartete weiter still und unbemerkt in seiner Ecke, ohne zu wissen, ob man sich seiner erinnerte, ja ob es draußen überhaupt regnete. Er konnte es allenfalls erahnen und sich auf seine Intuition verlassen, die immer noch in jedem Faden seines langsam verblassenden Stoffes wohnte.  Dann spürte er den Regen, er spürte die schleichende Feuchtigkeit, die durch das Gemäuer der Wände bis ins Innerste dringt. Er spürte Hoffnung. In jenen Momenten malte er sich aus, wie er sich weit ausspannte und alle unter seinem dichtem bunten Regendach vereinte: Tiere, Pflanzen, ja sogar Menschen  –  sie alle wollte er davor schützen, von allen Wassern gewaschen zu werden! Wehmütig dachte er an die goldenen Zeiten. Wie frisch und klar und leicht es sich nach einem Schauer anfühlte, den der Beschützte trocken überstand! Wie leicht war alles vorbei.

Dann kam der Tag, an dem der grelle neue Schirm wieder einmal von seinem Besitzer ausgeführt wurde. Diesmal führte der Weg jedoch nicht an leuchtenden Schaufenstern und glatten Häuserfronten vorbei. Nein, diesmal führte der Weg quer durch den nieselregnerischen Herbstwald. Es duftete nach Laub und Leben, und die Äste und Sträucher versteckten sich in weichen milchigen Wattenebeln. Da bekam es der grelle Plastikschirm, der so gar nicht in die naturgeschützte Umgebung passte, auf einmal mit der Angst zu tun.  Ob seines empfindlichen Plastikdachs wurde er sich schlagartig seiner Endlichkeit bewusst. Doch es war zu spät. Und so kam es, wie es kommen musste: Die Dornen einer Schlehe bohrten sich schonungslos durch den Kunststoff des Regenschirms, und aus dem schützenden Dach wurde ein löchriges Sieb, durch das die bleischweren Regentropfen kalt und gnadenlos auf den Kopf des Schutzsuchenden rannen. Das war der Anfang vom Ende des Blenderschirms. Er verblasste, wurde brüchig und zerfiel, als sei er nie dagewesen.

Der kleine bunte Schirm jedoch wurde an einem regnerischen Junitag von der neuen Bewohnerin des alten Hauses wiederentdeckt, als sie auf einem ihrer Streifzüge durch die vielen Räumen den kleinen dunklen Raum im Souterrain betrat. Die freundliche Frau drehte den Lichtschalter auf und blickte fasziniert auf die vielen offenbar seit langem vergessenen Gegenstände in dem Raum mit den hohen Decken, der vielleicht einmal ein Arbeitszimmer gewesen war. Wie Alice im Wunderland stöberte die elegant gekleidete Dame mit glänzenden Augen in dem übereinandergestapelten Trödel, den wurmstichigen Kommoden, korbgeflochtenen Sesseln oder brüchigen Hutschachteln, stellte sich die Menschen vor, denen diese seelenvollen Dinge vor langer Zeit gehörten, ihre ureigenen Geschichten und gelebten Anekdoten, die sich um jeden einzelnen alten Gegenstand rankten, bis sie plötzlich aus einer dunklen Ecke des Raumes ein kleiner Regenschirm anlachte. Sie erkannte die Qualität des kleinen Beschützers auf den ersten, wohlwollenden Blick und befreite ihn behutsam von Staub und Spinnweben, bis die einst warmen leuchtenden Farben des Stoffes gemächlich wieder zu strahlen begannen. Seitdem freut sie sich auf den Regen und erfreut sich dankbar ihres loyalen, treuen Begleiters. Und wenn es einmal nicht regnet, schützt er sie sogar vor zu viel Sonne …

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Von AnfAngst an

Ein kleines Kind liegt in seinem Holzgitterbett. Es ist Nacht, durch scherenschnittschwarze Baumkronen drängt blasses Mondlicht in den finsteren Raum. Alles schläft, atmet schwer und sammelt sich für einen neuen, ungelebten Tag. Nur nicht das Kind. Es wälzt sich herum zwischen Daunenfedern, Kuscheltieren und Rotztüchern. Was es am Alpträumen hindert, ist ein durchdringendes Gefühl der Unruhe, das den Magen rhythmisch vibrieren lässt und die Halsschlagader hörbar macht. Was das Kind mit fünf noch nicht weiß: es hat Angst. Angst vor der Dunkelheit, vor dem Alleinsein in seinem Zimmer, vor dem Alleinsein auf dem riesigen, unverstandenen Planeten. Es blickt in den Nachthimmel. Wie groß ist das Universum? Die Sterne. Wie weit sind sie weg? Der Mond. Wie kann ich zu ihm reisen? Irgendwann will es wissen, warum es lebt. Was, wenn meine Eltern morgen tot sind? Sein Vater erklärt ihm den Himmel, nicht die Erde.

© Lina Bibaric

Haus im Kopf – Nizza
© Lina Bibaric

Das Kind wird älter, geht in den katholischen Kindergarten, begleitet die Großmutter in die Kirche. Hört zum ersten Mal vom Leib und Blut Jesu und stellt entsetzt fest, dass man beides schlucken muss. Das versteht das Kind nicht. Auch in der Grundschule bekommt es keine Antwort auf seine vielen Fragen. Stattdessen singt es fromme Lieder unter der geschundenen Leiche am hölzernen Kreuz. Dann beginnt der Kommunionsunterricht. Das Kind erfährt zum ersten Mal von teuflischen Verrätern und reuigen Sündern, von schwachen Frauen und starken Männern. Und von einem Mann, der für dich, Dich, ja DICH allein gestorben ist. Aber ich habe ihn doch nicht darum gebeten! Ein strenger Gottesdiener lehrt das unverdorbene Kind Buße, Bescheidenheit und Demut. Immer heiter, Gott hilft weiter. Lehrt es zu Beten und zu Beichten. Was soll ich denn beichten, mit Neun? Also erfindet das wohlerzogene Kind seine Sünden. Es lernt zu lügen. Paradoxe Intervention auf Anweisung von oben? Habe 50 Pfennig Wechselgeld vom Bäcker behalten! Gott der Herr schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden. Ich habe gesündigt. Es lernt die 10 Gebote. DU SOLLST AN EINEN GOTT GLAUBEN. Warum? Wer alles glaubt, musst nichts mehr wissen. Wie praktisch, wie manipulierbar, Generalschlüssel zum christlichen Erfolg. DU SOLLST KEIN FALSCHES ZEUGNIS GEBEN. Was heißt das, Herr Pfarrer? DU SOLLST NICHT LÜGEN. Aber …? Wirst du ins Fegefeuer geworfen. Keine weiteren Fragen, euer Ehren.

So werden unsere blühendsten Entdeckerjahre von lebendiger Angst getrübt. Das mit der Nächstenliebe wird nicht näher erläutert, es geht um Schuld und Sühne. Und weil du von Geburt an schuldig bist, hast du etwas auf dem Kerbholz, von dem du als dummes Kind natürlich noch nichts weißt. So wirst du zum schuldlosen Sünder. Fühlst dich schuldig für die Tränen deiner Mutter, die Enttäuschung deines Vaters. Meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld. Du hast Angst vor dem Fegefeuer, Angst vor Satan, Angst vor Pfaffen, Angst vor dem Vater, Angst vor der Mutter. Also musst du dich ergeben und demütig sein und darfst ab sofort Niemandem mehr vorm Zubettgehen den Schlafanzug zerknoten, denn das ist Sünde! Der liebe Gott sieht schließlich alles. Das Christentum, heilige Mutter aller Ängste.

Dann gehst du zur Schule. Die Angst geht mit dir. Vor den Noten, vor den Lehrern, vor dir selbst. Du wächst heran. Beginnst dich für dein Äußeres zu interessieren, das dir grundlegend missfällt. Und auf einmal hast du Angst vor den Blicken und Urteilen der anderen. Verkleidest dich unter sonderbaren Kleidern ohne dein Selbst zu erkennen. Findest dich hässlich in deiner grobgerasterten Wahrnehmung, die noch nicht feinjustiert ist. Als das Abitur droht, verdrehen dir achtzehn Jahre alte, sorgengereifte Ängste den Kopf und entbinden die Versagensangst. Verzweifelt prügelst du Second-Hand-Wissen bis zur Erschöpfung in dein vernebeltes Hirn, bis du in der mündlichen Prüfung neben dir sitzt und hilflos beobachten musst, wie dein autarker Mund falsch Gewusstes reproduziert. Trotzdem bestehst du. Was nun? Studieren? Arbeiten? Nichts interessiert dich am Berufsleben. Zu jung für professionelles Altsein.

Also studierst du. Stehst plötzlich allein in der riesigen Uni. Geworfenheit, Leere. Keiner hilft dir, keiner weist dir den Weg. Dabei willst du doch nur weitergehen. Du blätterst durchs 800 Seiten dicke Vorlesungsverzeichnis, liest die Titel der Lehrveranstaltungen. Du verstehst sie nicht, wie also sollst du die Kursinhalte verstehen? Du fühlst dich minderwertig, die Angst vor dem Dummsein lacht hämisch an deinem Ohr, bis dein Bauch sich für die richtigen Vorlesungen entscheidet, sogar die richtigen Menschen auf jugendlich mäandernden Um- und Abwegen. Auch dein Privatleben mäandert. Du hast gescheiterte Beziehungen, andere haben Beziehungen, die scheitern. Man tauscht sich aus, vergleicht, beschreibt, urteilt, analysiert, spekuliert. Freundschaften werden geschlossen und gelöst. Du stürzt dich von Party zu Party, von Rausch zu Rausch, drei Tage die Woche, acht Stunden am Tag. Tune in turn on drop out. Weißt alles und nichts. Erkennst die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, von Hineinrufen und Herausschallen. Vom Antun und nicht Angetan-werden-wollen. Interessierst dich für Yoga und Ayurveda, Ashanas und Nagchampas. Bestehst von einem Tag zum Nächsten, Nebeltage eines interimistischen Lebens. Zwischendurch beißt du dich durch den akademischen Wissensbeton wie ein hungriger Biber durch Pappelstämme. Aber hinter dem Damm lauert bereits die junge Prüfungsangst. Du glaubst sie in den Griff zu bekommen. Nichts greift. Also lenkst du dich ab, liegst wach (größeres Bett, keine Gitter), lernst. Dann die Prüfung. Du zitterst, stotterst, zweifelst, aber du bestehst. Du könntest dich freuen, die Befreiung vom Korsett der auferlegten Wahrheit feiern, würde nicht die Zukunftsangst schon auf dich warten. Vorbei die Zeiten des Müßiggangs, der durchfeierten Nächte und verschlafenen Tage. Jetzt droht die nackte Existenz mit ihren unerbittlichen Fragen. Womit wirst du dein Geld verdienen? Wie wirst du dein Leben finanzieren? Wer braucht dich? Was brauchst du? Da stehst du nun, in der Tasche den Magister – zwei Orchideenfächer, ein Massenfach – aber keinen einzigen Cent. Die Angst raunt dir Teuflisches ins Ohr. Endlose Schwarzprosa allgegenwärtiger ontologischer Gefahr. Kein Geld, keine Arbeit, keine Wohnung, kein Urlaub, keine Platten, kein Drink in der Lieblingsbar, Endstation Hoffnung.

Du schluckst alles hinunter und bewirbst dich auf den ersten Job. Die erste Absage trägst du mit Fassung, die zweite lachst du weg, aber mit der dritten bröckelt deine zerbrechlich große kleine Welt und die effizient programmierte algorithmische Existenzangst übernimmt das Ruder. Um nicht auf der Straße zu enden, machst du ein Praktikum nach dem anderen. Versprichst dir viel von falschen Versprechungen. Dann endlich, der erste, bezahlte Job. Und an seiner Seite, die Angst vor dem Jobverlust. Dass man ausgerechnet dir diese großartige Chance gegeben hat! Dir, DIR! Wo doch alle anderen alles besser können als ich. Also sei dankbar, sei fügsam! Dixit Algorismi. Du versklavst dich ein, zwei, drei Jahre, bleibst ein austauschbares Rädchen im statischen Machtgetriebe. Hast Erfolge, die dir immer wieder gern missgönnt werden. Hast dich selten einsamer gefühlt, allein unter Mittelmäßigen, die deinen machtgeilen Chef umkreisen wie weiße Zwerge das schwarze Loch. Selbsternannte Weltretter, die nur sich selbst retteten, und ein einäugiger Machiavelli unterm Regenbogen der Blinden. Am Anfang willst du sie entblößen, die nett Maskierten, ihr durchschaubares Kalkül mit immer dickeren Schichten wasserfester Theraterschminke retuschierend, durch die deine kritischen Augen hindurchdringen wie Grashalme durch Asphalt. Du willst kämpfen gegen die Windmühlen der flachen Hierarchie, Fata Morgana der Gutgläubigkeit. Doch du bist allein unter Missgünstlingen, Selbstdarstellern, Weltverschlimmerern. Der Sauerstoff im Luftschloss wird toxisch; Angst zu ersticken.

Auf dem Weg zur Arbeit sitzt du in der U-Bahn zwischen lauter Ichs und zerfledderten Gratiszeitungen. Du setzt deine Kopfhörer auf, ziehst dir wirre Sounds rein, liest ein Buch und verkriechst dich in deinen provisorischen Individualkokon. Trennst Innenwelt von Außenwelt, durch die der Sturm fönt. Zeichen der globalen Erderwärmung? Du mitleidest mit all den Menschen, deren Häuser in den Fluten versinken. Dass man überhaupt der Empathie fähig ist, bevor die Menschheit ausstirbt. Was deiner Meinung nach in spätestens 100 Jahren der Fall sein wird, wenn nicht schon eher. Vorher willst du aber noch viel reisen, möglichst CO2-Neutral. Außerdem wird Fliegen sowieso immer gefährlicher. Was, wenn man abstürzt, von Fanatikern entführt, gar in die Luft gesprengt wird? Auch im Zug ist dir oft ganz mulmig zumute, seit du an einem bedrohlich heißen Sommertag im U-Bahnschacht stecken geblieben bist. Auf einmal roch es komisch. Chemisch, irgendwie. Giftgas, wie damals in der U-Bahn von Tokio? Ein Pawlow’scher Hund ist immer wachsam. Das Zweirad ist für dich auch keine Alternative. Zu hektisch der Straßenverkehr, allein die vielen Löcher im Asphalt, der Rollsplit, die Öllaken. Die Risse in der Brücke. Das Verletzungsrisiko. Überhaupt gewinnt mit jedem Lebensjahr die Gesundheit an Stellenwert. Allein die Angst vor den E’s in Lebensmitteln. Also planst du für deinen nächsten Einkauf im Biosupermarkt immer eine halbe Stunde länger ein, zwecks Studiums der Inhaltsstoffe via Codecheck. Nach der obligatorischen Gesundenuntersuchung verschreibt dir der Hausarzt deines Misstrauens Medikamente, die du brav beim Wucherapotheker um die Ecke statt günstig im Internet kaufst. Du weißt schon, die Angst vor gefälschten Medikamenten aus Fernost.

Überhaupt, die Angst und das Internet, virtuelles Füllhorn irrationalster Ängste, liaison dangereuse. Datenklau. Phishing. Cybermobbing. Spionagetrojaner. NSA. 1.000.000.000 Virenangriffe pro Tag. Virale Angst, und du mittendrin, mit deinen social-medial verschenkten Daten, FruchtGlasFliege auf dem Weg zum nächsten faulen Apfel, verheddert im weltweiten Spinnennetz. Du drehst das WLAN ab und dich im Kreis. Läufst eine Runde um den Block, um wieder geradeaus zu sehen. Kommst nicht weit, weil ein plakativer Aufruf mit sechs Großbuchstaben in dir die nächste, brandneue Angst generieren will. Am Abend schaltest du den Fernseher an. Siehst Krieg, Hunger, Naturkatastrophen, ertrinkende Menschen im Mittelmeer, Terroranschläge, Ölteppiche. Versinkende Inseln, gerodete Wälder, aussterbende Tiere, bedrohte Pflanzen, schmelzende Gletscher, verendende Kinder und verzweifelte Mütter. Multiplikatoren der Angst, gezapptes Grauen. Angst, die um sich beißt wie ein tollwütiger Köter, von der die Aasgeier profitieren und dich ausrauben mit teuer bezahlten Sicherheitsmauern aus billigem Pappmaché. In diesem engmaschigen Beklommenheitsgeflecht versuchst du dir mit der Machete der Zuversicht deinen Weg zu bahnen. Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, warnt dein Verstand. Gefahr erkannt, Gefahr verkannt.

© Lina Bibaric

Winterabend im Wienerwald – Austria.
© Lina Bibaric

Irgendwann wird dir das alles zu viel. Die Stadt, der Job, das angsterfüllte Leben. Du willst raus, weg, dorthin, wo nur genommen, was gebraucht und nur gebraucht, was gegeben wird. In dir erwacht eine schneewittchenhafte Ahnung von jenem Ort, den du als Kind geliebt und als Erwachsener vergessen hast. Warum, auch. Aber du erinnerst dich, du erinnerst dich an Dich. Und plötzlich liegst du einfach da, findest dich wieder inmitten der ungemähten Wildblumenwiese. Allein, allein mit dir selbst, nicht unter Menschen. Aber es ist ein neues Allein, ein ALL-ein, ganz ohne Angst, die du ignorierst wie die Zecken und Insekten und FSMEs und Borreliosen und stattdessen deine Aufmerksamkeit auf die Margeriten, den Storchschnabel und den blühenden Klee richtest. Den Liedern der Meisen und Finken, den flüsternden Gesprächen der Buchen und Eichen lauscht. Die unbezahlten Stunden vergisst und dich geschenkter Sekunden erfreust. Du bist eins mit dir, dem Himmel, den Wolken, ja sogar den Zecken und Insekten. Und auf einmal ist die verlorene Zeit wieder da und du galoppierst sattellos auf jungen Pferden durch die endlosen Wälder, den Wind der Unbekümmertheit um die Ohren. Du wühlst beim Spielen mit den Händen im Dreck und beißt anschließend herzhaft in einen wahrscheinlich gespritzten Apfel. Bretterst freihändig auf deinem klapprigen FaltFahrrad bergab und später zu dritt auf einem frisierten Moped über Feldwege, Echo eines sorgenfreien Lebens ohne den hässlichen alten Affen. Du atmest tief, tiefer und entspannst jedes Glied deines angespannten Körpers. Allmählich wird es hell. Der neue, noch ungelebte Tag liegt dir zu Füßen. Du entscheidest, dich zu freuen. Es fühlt sich fremd und zugleich vertraut an, wie sich die ungebremsten Glücksmoleküle in dir verteilen und die Angstpartikel nach und nach ersetzen. Du wirst lernen, damit umzugehen.

Ja, Angst hattest du schon damals, im Holzgitterbrett. Aber es war eine andere Angst, es war die Angst eines fragenden Kindes, das keine Antworten bekam. Heute bekommst Du zu viele.

 

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„Zuugfääähtabbbb“ am Hipstersquare

Es beginnt schon morgens im Bus: Du steigst ein, schwitzende Menschen mit dicken Jacken drängen sich im Durchgang, alle Plätze sind besetzt. Alle – bis auf den links neben der alten, tollkühn frisierten und undezent parfümierten Frau, die direkt am Gang Platz genommen und auf den Fensterplatz sorgfältig Tasche und Pelzmantel drapiert hat, um ihren Besitzanspruch auf beide Plätze zu legitimieren. Ich fühle mich gleich angesprochen und stelle mich demonstrativ vor die Gute, Ihren Blick in meinen Augen. Als nach gefühlten 5 Minuten noch kein Blickkontakt herzustellen ist, gehe ich zum Angriff über und frage höflich, ob der Platz neben ihr noch frei sei. Statt einer Antwort wird die Garderobe  – begleitet von einem tiefen Stoßseufzer – mürrisch auf den werten Schoß geräumt, und ich darf mich gnädigerweise, offenbar nur ausnahmsweise, setzen. Austeigen, umsteigen, U-Bahn. Gedränge am Schottenring, die U4 lässt auf sich warten und mit jeder Sekunde füllt sich der Bahnsteig mehr. Gerade in dem Moment, als der Bahnsteig vor Überbevölkerung zu implodieren scheint, schiebt sich die überfüllte U-Bahn donnernd heran und erlaubt nicht einmal einem Drittel der Reisewilligen den Zutritt. Ich schaffe es gerade noch vor dem hingerotzten „Zuugfääähtabbbb“ ins Wageninnere und spüre, wie die automatische Tür an meinem Mantel vorbeischrammt. Zwischen zwei Achseln klingelt plötzlich lautstark Mozarts Kleine Nachtmusik und ein Mann mit eleganter Hornbrille, dunkelblauem Kaschmirmantel und beigefarbenem Burburry-Schal schmettert ein lautstarkes „Servas, Franzi …. wos? I bin in der Bahn, I versteh di so schlecht … sog amal, hast mit dem Harald schon g’sprochen? Wegen dem Scouting … na du waßt scho …. jo, genau. Ich lass des imma alles abnicken, wenn wir ne höhere Marge hoben … ja eh … dann geh ich direkt zum Oliver und hol mir ne neue P.A. … Jo, klar … Letztens war ich erst beim Sales Director vom Konzern im Büro .. son richtig chices Loft mit super Ausblick. Hob i ihm gleich g’sagt. Sogt er: ‚Jetzt ist Herbst. Musste mal im Frühling kommen, wenn sich die Karnickel paaren – da hast an super Asublick!‘ hahaha, guat, oder? … sag amol, wer macht bei euch eigentlich die Business Integration?“ Bevor der Herr seine Achselnachbarn mit der ausstehenden Antwort beglücken kann, hält die U-Bahn und mindestens die Hälfte der genötigten Zuhörerschaft steigt aus. Ob der Mann das Gespräch zu Ende geführt hat – man weiß es nicht.

Jetzt aber erstmal los zur Besprechung. Granittreppe hochgerannt, Glastür aufgestoßen – da sitzen sie, die Wappler. Asymmetrische Neo-Eighties-Frisen, trendy Nerdbrillen, silberne Mac Books. Mir wird spontan übel und in Übersprungshandlung kippe ich mir ein stilles Wasser ins windschiefe Glas. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, die Bobos. Diese selbst(verliebt)ernannten Kreativen, die ihre Mitmenschen schon mit ihrer simplen Präsenz nerven. Diese Trotteln mit wissendem Kennerblick und legerer Ernsthaftigkeit. DAS ist nämlich ganz wichtig: ernst ist cool. Da fällt mir das Konzert vor zwei Wochen im Schaupielhaus ein. Geklonte Bobos, soweit das Auge reicht. Hornbrillendichte 88 %, Seitenscheitelquote 93 %. Uniforme Masse aus ImageIndividuen. Mitsingen? Nur innerlich. Tanzen? Geh bitte, das kommt nicht so lässig. Lachen? Fehlanzeige. Wir lachten und wurden mit bösen Blicken bestraft, bis uns dasselbe fast verging. Präpotente Unsympathen. Glauben, wer zu sein, weil sie jemanden nachäffen, von dem sie glauben, er sei wer. Persönlichkeit? Gekauft. Ein Ich? Logo, aber nicht nur eins. Ichs, soweit das Auge reicht. Allerdings nur Ich-du-er-sie-es-Ichs, alle austauschbar, situationselastisch quasi. Pronomen ohne Personal, dessen Sein nur in der Definition von Soll und Haben existiert. Mein iPhone. Mein Kindle. Mein Kind. Und damit die kleinen Paulas und Eliasse den latent teuren Geschmack der gutbürgerlichen Eltern auf die noch verschlossenen Augen gedrückt bekommen, werden sie im stylischen 70er-Jahre-Retrokinderwagen stilsicher durchs Hipsterquartier geschoben, wo sie dann im kinderfreundlichen Bio-Lokal zwischen blanker Mutterbrust und Soja-Chai-Latte so richtig schön antiautoritär auf die Kacke hauen können. Da wird geschrieen, gerannt, gerempelt und aufs neuseeländische BioSchafwollsackerl gekotzt was das Zeug hält, ganz ohne Rücksicht auf zwischenmenschliche Verluste derer, die ohne Kind mal in Ruhe ihren Kaffee genießen wollen. Sollen sie doch woanders hingehen! Wo wir sind, ist schließlich vorne! Urlässig einfach. Und so politisch korrekt. Alles bio natürlich, Klamotten vom Recycle-Designer um die Ecke, Naturkosmetik aus der homöopathischen Jugendstilapotheke im 6. – wer hat, der hat. Schade eigentlich, dass es ihr iPhone nicht bio gibt. Die 12-jährigen Kinder in der chinesischen iphoneFabrik hätten in ihrer un(ter)bezahlten 60-Stunden-7-Tage-Woche sicher auch was Besseres zu tun als giftige Metallstaubpartikel ohne Filter oder Gesichtsmasken zehn bis zwölf Stunden pro Tag einzuatmen. Darauf eine Kärntner Heu-Limo – hilft schließlich Kindern in Not.

© Lina

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Mensch unter Menschen

Es ist kalt, nass und grau an diesem Dezembertag. Durch überdekorierte Strassen treiben namenlose Zeitgenossen, eingepackt in dicke Schals und Echtfellpudelmützen, den Blick konzentriert nach unten auf den Monitor des neuesten Smartphones gerichtet. Alles blinkt und schimmert, lasiert die Gedanken. Wie Statisten in einem überdimensionierten Weihnachtswerbespot schlängeln sich die Massen durchs austauschbare Winterwunderland. Es riecht nach Glühwein, Zimt und Stress. Am Schwedenplatz halte ich inne, wartend, frierend, allein. Ich ärgere mich, wieder einmal der Temperatur nicht gerecht gekleidet zu sein. Zu wenig Wollanteil im Mantel, zu wenig Leder am Schuh. Jingle bells, jingle bells, jingle all the way. Ich zittere, chic eingepackt, aber mit erstarrten Zehen. Worauf warte ich? I’m dreaming of a white christmas. Mir wird schlecht. Alles dreht, alles vergeht. Im Kaffeehaus ist es warm und überfüllt. Ich finde einen freien Platz am Tisch neben der Küche und bestelle ein Bier. Wie immer, wenn ich alleine ein Lokal betrete und kein Buch zur Hand habe, sucht mein Blick ein Zuhause, um nicht verloren zu wirken. Früher griff ich in solchen Situationen zur Zigarette. Heute lese ich das Horoskop auf dem Zuckerbeutel, ist eh gesünder. Studiere die Speisekarte zum dritten Mal. Gehe schließlich zum Zeitungstisch und fische nach dem einzigen halbwegs seriösen Politmagazin des Landes. Gelangweilt blättere ich durch die schreienden Seiten mit den knallig negativen Überschriften. Krieg, Krankheit, Katastrophen, die drei K‘s der Neuzeit. Als ob es ein Verbrechen wäre, über etwas Schönes zu berichten.

Der ältere Herr am Nebentisch liest die Zeitung, hinter der in unregelmäßigen, rhythmischen Abständen der Qualm eines Zigarillos aufsteigt. An der rechten Hand fehlt dem Herrn ein Finger, wie mir auffällt, als ich versuche, die Überschrift eines Einspalters seiner Tageszeitung zu entziffern. Seine Schuhe sind kalbsledern und rahmengenäht, der weinrote Pullover aus Kaschmir, der Ehering breit und golden – wohl doch kein Arbeitsunfall, der verlorene Finger. Als er grimmig zu mir rüberschaut, flieht mein Blick nach links, direkt in die durchsichtigen Augen einer dünnen jungen Frau. Die Augen einer Verlassenen. Die Frau im teuren Hosenanzug schaut ins Nichts, das friseurfrisierte blonde Haar adrett ihr gemeißeltes Gesicht umrahmend, aus dem Verzweiflung spricht. Klimawandel, Terror, Geiselnahmen, Konsumrausch – wann wird aus meinem Gesicht die Verzweiflung sprechen? Am Fenstertisch redet eine Mutter auf ihre beiden Kinder ein, 5 und 8. Der kleine Jonathan bemalt den Tisch mit Edding, während die kleine Sophie die Servietten zerreißt. Mummy ist das Wurscht, schließlich sollen die beiden Hochbegabten als erfolgreiche Individualisten Karriere machen. Mein Magen verkrampft sich. Satzfetzen, Kaffeemaschine und Kellnerschmäh verkleben zu einem akustischen Einheitsbrei, meine Augen beginnen zu brennen. Zwei Tische weiter unterhalten sich zwei Maturanten. Der eine mit rotblonden Struwelpeterhaaren, verblasstem Kapuzenpulli und schelmischem Augenpaar, der andere mit Undercut, Segelschuhen und Collegeblazer. Netzwerksessions versus Tanzschule. Rucksackurlaub in Asien versus Segeltörn in der Karibik. Kiffen versus Komasaufen.

Doch irgendwie versteht man sich, man redet miteinander. Ich meine echtes, gehaltvolles Reden, nicht den bloßen Austausch sinnentleerter Phrasen. Warum interessieren sich nur so wenige Menschen für andere? Geistige Anteilnahme im ethymologischen Sinne? Wohlwissend, entweder keine oder zuviele Antworten auf meine rhetorische Frage zu bekommen, bestelle ich noch ein Bier. Bereits nach dem zweiten Schluck spüre ich diese teenagerhafte Unbefangenheit in mir aufsteigen. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Gelassenheit dehnt sich in mir aus wie ein abgekühlter Stern. Ich schwebe im samtigen Dunkel aus unendlichem Schwarz. Die Welt um mich herum zerfällt nach und nach in ihre Atome. Erst meine Füße, dann meine Hände, fühlen sich warm und schwer an, eine allumfassende Wohligkeit breitet sich aus, fast daunige Schläfrigkeit wabert durch meinen gesamten Körper, bis mich ein spürbar bohrender Blick in die Alltagsrealität zurückwirft. Ich drehe mich in die gefühlte Richtung und pralle gegen die giftig starrenden Augen einer würdelos alternden Frau mit runtergezogenen Mundwinkeln. Hab ich mir das Kleid vollgekleckert? Hab ich die Frau vorhin versehentlich angerempelt? Oder ist es schlicht mein Dasein, das die andere in ihrer missgünstigen Selbstgefälligkeit stört? Warum interessiert es mich überhaupt, ob irgendeine verbitterte Furie ihren Frust an andere heften will? Ich weiß es nicht – nur, dass sich meine anerzogene Höflichkeit in solchen Situationen als Fluch entpuppt, denn statt eines kecken „Is was?“ schaue ich verschämt in die entgegengesetzte Richtung. Eine schlechte Wahl, denn aus eben jener grinst just in diesem Moment ein dicker Mitfünziger mit Silberblick schmierig in meine. Mir wird das hier alles zuviel, ich zahle und gehe.

Draußen tobt der vorfesttägliche Wahnsinn, als gäbe es kein Morgen. Es wird gedrängelt, gedrückt, zur Seite gestoßen, geschimpft. Auf dem Weg zur Bahn nehme ich intuitiv einen Weg, den ich noch nie zuvor gegangen bin. Plötzlich stehe ich vor einem großen Fenster, das eine vergilbte uralte Gardine vor zugereisten Blicken ins Innere schützt. Daneben ist eine alte Tür als gebogenem Glas, dahinter ein Windfang aus dunkelgrünem Filz. Ein kleines Lokal, so einladend ein Lokal nur sein kann. Keine Werbung, keine Beleuchtung, kein Image. Ich trete ein. Die Rauchwaben trüben den Blick in den Raum wie die nikotingetränkten Gardinen das Fenster. In dem kleinen Gastraum mit den verblassten Fotografien und den seltsamen Spielkarten an der Decke stehen nur vier dunkle Holztische. Fast jeder Platz ist besetzt von Herren und Damen älteren Jahrgangs, die freundlich in meine Richtung schauen und mir bedeuten, Platz zu nehmen. Ich setze mich an den Bistrotisch neben dem Ausgang, zücke mein Notizbuch und bestelle ein Bier. Einer der Herren dreht sich zu mir um und prostet mir unaufdringlich zu. Er stellt sich namentlich vor, ich lächele, und nach einer Weile stellt sich jeder jedem vor und mit einem Mal unterhalten wir uns, mehr noch – wir reden, reden über Rühm, Bayer, die Wiener Gruppe, Jandl, Achleitner, über die Stadt im Allgemeinen und das, was ihren Reiz ausmacht, im Speziellen, bis die semantischen Wogen sachte verebben und wieder zu einer wohlig schaukelnden Fläche werden. Und auf einmal schreibe ich das erste Wort, die erste Zeile eines Gedichtes, die fast spielerisch zu Papier wird. Die Damen beobachten mich wohlwollend. Keine Spur von Missbehagen und Niedertracht in ihren klugen Augen, nur Spuren von gelebtem und gelerntem Leben um ihre lächelnden Münder. Ich fühle mich wohl, als Mensch unter Menschen.

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eclipse

frische Farbenspiele
im Schatten der Zukunft
hippe Kohlefaserfreunde
mit  Alabasterhaut
und Knochen aus feuchtem Bims
wildern im Revier der Überlebenden
totes Fleisch henkt zwischen Jacketkronen
schwarzer Phosphor überm Baldachin
eine Axt an jedem Baum
Nieselregen aus Ammoniak
der sklavische Frühling
tropft in die Loge der Schuldigen
Porzellangesichter prosten mit
Champagner aus Formaldehyd
ahnungslos
der letzte Vorhang
Operette Amor Fati
wo der Mammongott diktiert
den Segen auf dem kurzen Dienstweg
Ovation der losgekauften Matadoren
Ketzer ab!
im Gleichschritt zum Schafott
Pauken, Trommeln und Trompeten
Massengrab der Kitschkulisse
und an jeder Ecke wartet eine Hure
Maskenworte beißen aufs Granit
der Erben toter Dichter
auferstehen aus Ruinen
mit  dem Glasschirm der in der Hand
Komponisten einer wolkenlosen Ära.

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monolog


 

PERSON A                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           PERSON  B

Hi, wie geht’s?

Danke, gut!

Lange nicht gesehen!

Ja, stimmt.

Und sonst so?

Ganz gut. Und selbst?

Auch gut, danke.

Was machste?

Das übliche. Und du?

Mal dies, mal das.

Noch mal was von X gehört?

Nix. Und du?

Auch nix.

Und von Y?

Der geht’s gut.

Ah, super.

Und wie läuft’s jobmäßig?

Es läuft.

Ah, toll.

Und deine Eltern?

Denen geht’s gut.

Das freut mich!

Mich auch.

War schön dich zu sehen.

Fand ich auch.

Wir müssen uns mal treffen!

Auf jeden Fall.

Wir telefonieren, okay?

Auf jeden Fall!

Ich ruf dich an!

Mach das.

Bis dann!

Bis dann.

Wir sehen uns!

Wir sind ja nicht blind, haha.

umdrehen, weitergehen.

 

 

Hi, wie geht’s?                                                           Danke, gut!

(…)

(altes A, neues B)

© Lina

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ohne Titel (für Konrad)

Der Höhepunkt des Abends. Das, worauf alle gewartet haben. Endlich! Der feine Herr im schwarzen Smoking betritt den Saal. Würdevoll schreitet er durch die Menge. Alle Köpfe rechts. Tuscheln, nervöses Kichern, Ellenbogenstupsen. Flirrendes Getuschel. Das Kammerorchester spielt einen Tusch.  Situierte Stille. Der feine Herr erhebt das Wort. Zustimmendes Kopfnicken, verständnisvolles Lächeln, erleichtertes Aufatmen nach dem Erhabenen. Dann das erhobene Glas, das Fest ist eröffnet. Der feine Herr, Hofrat Prof. Dr., mischt sich unter die handverlesenen Gäste. Bekannte Gesichter erkennen sich, unbekannte Hände schütteln sich. Schon schüttelt Mag.a Phil. die auffällig gepflegte Hand des Herrn Ing. Dkfm. Dann trifft Gen. Dir. Dr. den Herrn Dr. med. habil, beide wiederum schütteln Doz. Dr. und  Dkfm. Mag. Dr. die Hand. Der Herr Stv. Landeselternvereinigungs-Landeshauptmann strahlt selig beim Anblick der feschen Frau Gouverneurin Dr. Mag. und bringt ihr einen Drink, den sie jedoch lieber ausschließlich mit dem Herrn Univ.-Doz. MMag. DDr. zu genießen pflegt.

    Gleich nebenan macht Herr Dr. hon. Botschafter einen zugegeben niveaulosen Witz auf Kosten von Herrn Dr. Mag. pharm., woraufhin sich dieser echauffiert zur Bar drängelt. Der dergestalt Brüskierte bestellt sofort einen doppelten Cognac und beklagt sich bei Dr. med. dent über die Impertinenz eines so schlecht gekleideten Mannes. Immerhin macht Herr Min. Rat. Dr. der Frau MMag. Dr. den Hof. Zeitgleich balanciert ObstA Dr. mit Prim. Univ. Prof. Dr. und mehreren Long Island Ice Teas am Abgrund des Buffettischs, als eben dieser unter der stürmischen Begrüßung des stark angeheiterten Reg. Rat Dr. lautstark zusammenbricht, woraufhin die Herren Komm. Rat Ing. und Hofrat Dipl.Ing. zunächst in brüllendes Gelächter, dann in brüllenden Husten ausbrechen. Betretenes Schweigen, als die auffallend unattraktive Frau MMMag.a vorbeigeht. Herr Gen.Dir. schüttelt ihr dennoch die Hand. Ungläubiges Staunen, als just in dem Moment der Herr Abg.z.NR Dr. die zugegeben fesche, aber gänzlich unbegabte Frau Mag.a mit einem allzu herzlichen Busserl begrüßt und sie sogleich auf einen Mojito einlädt. Daraufhin wendet sich Frau Dir. DDr. Mag.a  entrüstet dem Herrn Prok. DI. Dr. techn. zu, der seine Hand jovial auf ihren Hintern legt. Der smarte Junggeselle Senator h.c Prof. Dr. Dr. wird zum wiederholten Male gleichzeitig von der bereits stark angeheiterten Frau OMR Dr. Dr., Frau OMR Dr. med. habil. und diesmal sogar von Frau Baurätin h.c. Dipl.-Ing.in. höchstpersönlich umgarnt, die die vierte Runde Malibou Orange für alle spendiert.

   Im Separée erfährt der leutselige Herr Dipl.VW MR aD vom redseligen Gen. Dr. Dr. bei einem Gin-Basil Smash streng vertrauliches Insiderwissen für eine geplante kleine Stiftung in Liechtenstein. Dr. med. hingegen tagträumt lieber von einem Schäferstündchen mit der schönen Frau Dr. Med. Vet., die wiederum von einem Date mit dem betuchten Herrn Honorarkonsul träumt, welcher erfolgreich gleich drei Stiftungen in drei hier nicht näher erwähnten Ländern unterhält. In der VIP-Lounge versucht Herr Arch. Dr. Ing. derweil verzweifelt, mit dem Herrn Bundesminister a.D. über die Finanzierung seines geplanten Einkaufszentrums zu reden; dieser jedoch verweist auf den Bürgermeister, bestellt sich den vierten Tequila Sunrise und prostet verschüttend den Herren Dr. Phil. und Arch. Mag. zu. Dagegen entrüsten sich Frau Bakk. (FH), Herr Bakk. rer. soc. oec., Herr Bakk. art und Frau Bakk. rer. nat. über den ihnen zugewiesenen Katzentisch in der linken Ecke des Foyérs, worüber sich Frau Univ. Lektorin Prof.in MMag.a und Frau Prof.in Dr. Med. habil geradezu diebisch freuen.

   Herr OMR Dr. sc. med. schafft es gerade noch zur Toilette, als der gut dosierte Erdberr-Daiquiri vom Herrn Pfarrer i.R. seine entleerende Wirkung zeigt. Zum Glück weiß der geläuterte Prof. Dr. Med. i.R. Rat und steckt dem Leidenden eine Hand voll Kümmelsamen in den halboffenen Mund. Als der Herr Reg. Rat das sieht, verrichtet dieser seine Notdurft sofort im benachbarten Urinal, wobei unglücklicherweise die Hälfte des redundanten Körpersaftes auf dem Seidenfrack des nichtsahnend urinierenden Herrn Hofrat Mag. Dr. landet, der dem Unglücklichen daraufhin zeternd sämtliche Kontakdaten für das frisch generierte Versicherungsdelikt abverlangt. Das Kammerorchester stimmt schnell zum Kaiserwalzer an, und der unattraktive Komm. Rat. Prof. bittet die junge Frau Mag.a Dkff. zum Tanz. Diese nimmt stattdessen ein entsprechendes Angebot des Herrn Generalkonsuls an, obwohl sie eigentlich mit einer Aufforderung des vermögenden Herrn Grafen gerechnet hat, der jedoch nur Augen für die attraktive Botschaftsrätin hat, die aber leider mit ihrem langweiligen Gatten Dr. Ing. Dkfm. über das Parkett schwebt, weswegen die Verweifelte sich lallend an den gehörlosen Oberstleutnant d. Res. heranschmeißt, der diese seltene Gelegenheit sogleich dankend annimmt. Zeitgleich raunt der blutjunge Dipl. Ing. Dr. der verheirateten Frau Amtsrätin Dr.in Mag.a etwas Unanständiges ins Ohr, woraufhin sich beide mit einem Aperol Sprizz in den 3. Stock rechts, 5. Tür links, verziehen.

   Chefarzt Prof. DDr. hat die Nase voll und spritzt sich auf dem Klo eine zwei Ampullen Morphin gegen die schmerzende Langeweile, als der Herr Dr. Jur. an die verriegelte Tür klopft und nach Selbigem verlangt. Unglücklicherweise haben genau das der Herr KR dkfm. und KR Dr. beobachtet, die unverzüglich zum Herrn Min.Rat eilen, der wiederum diese skandalöse Neuigkeit sogleich dem Herrn Min. Rat. Dr. berichtet. Als MR Dr. med h.c. davon erfährt, platzt ihm sichtlich der Kragen und mit ihm das Geschäft, was er in mehreren Florida Slings ertränkt. Die soeben erst darüber informierte Gräfin starrt entsetzt in ihr goldenes Handtäschchen, in dem sich ihre eigene letzte, halbleere Ampulle befindet, und macht sich sofort auf den Weg, um den Kammersänger zu suchen, der sie süffisant zwinkernd an den Herrn Notar Dr. jus. empfiehlt. Gemeinsam werfen sich der Notar, die Gräfin und der Chefarzt eine handvoll Tranquillanzien ein, die sie mit einem doppelten Mai Tai runterspülen. Auf dem Damenklo ist derweil ein rhythmisches Poltern zu hören, welches auf die synchronen Beckenbewegungen des katholischen Herrn Bakk. theol. und der zum dritten Male geschiedenen Frau Dr.in Mag.a techn. zurückzuführen ist. Oberarzt Uni. Doz. Dr. torkelt aus dem Männerabort, ohne die sich aufrollende Rolle Klopapier an seinem Smokinghosenschlitz zu bemerken. Ungefähr auf der Höhe der opulenten Buchsbaumgebinde auf dem Treppenabsatz stößt dieser mit Frau Studienrätin MMag. Dr.  zusammen. Gemeinsam mit der Rolle Klopapier verschwinden die Fremdgehenden im Herrenklo. Als der morgen graut, spielt das Kammerorchester Glenn Miller.

[Anmerkung: Alle hier genannten Titel entsprechen der Wirklichkeit und sind dem „Titel“-Pulldown-Menü der Website http://www.staatsoper-wien.at entnommen]

© Lina

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