[Vorsicht, Kölsch!]
Der Kellner bringt noch ein Bier. Dialektgeschwängerte Sprachfetzen wabern durch den holzgetäfelten Raum. Es riecht nach Rauch, Schweiß und Einfalt. Der Stammtisch rechts neben der Theke ist vollbesetzt. „Prost Manfred, uff uns“. Karl-Heinz schreckt mit glasigen Augen aus dem Minutenschlaf: „Prostata, so jung kümm mir nisch mehr zusammen“. Günther rülpst anerkennend. Dicke Bäuche buhlen unterm Rippenleiberl um bewundernde Blicke. Renate bestellt ein Kölsches Gedeck, das dritte heute Nachmittag, Schnaps und Bier auf Ex. Gläserklappern auf gelber Kacheltheke. Klaus lallt den ‚Puppenspieler von Mexiko‘. Renate klammert sich benommen an die Rückenlehne des gedrexelten Barhockers, wobei ihre Gold-Creolen am Zinn-Aschenbecher hängen bleiben. Sie schreit auf. Der rettende Griff zur ERNTE hält die Labilität stabil. Wummerndes Trommeln von draußen. „Wann sin die Tünnesse da drusse endlich fäädisch? Jedes Johr dä gleiche Driss“. Manfred blökt in Richtung Theke. „Die schwule Pitta do nemme langsam Überhand“. Aus bierseliger Trägheit wird a(lk)gressive Erregtheit. „Jenau, janz Kölle is nur nochene Homostadt! Die solle ma wiedä in de Kirsch jon“, rät der schlaue Stammtisch. Renate spürt den Schwindel in ihr aufsteigen. Ein Bein steht fest am Boden, das andere verheddert mit dem Korkplateau im Drexelhocker. Sie will gehen, stolpert und torkelt hinaus. „Tschüss, Lück, ich jank heim“.
Draußen tobt das blanke Chaos. Halbnackte Männer in Lederchaps prosten Renate lachend zu. Eine 2 Meter 20 große Transe kitzelt sie mit Federboa am Doppelkinn. Renate will weg. Sie versucht zu rennen, bis sie über den losen Kopfsteinpflaster der maroden Altstadtgasse stolpert. Sie verliert das Gleichgewicht und stürzt direkt in die Arme eines vollbärtigen Kerls. Ihre Augen leuchten stärker als ihr lila Lidschatten, als sie in seine braunen Augen schaut. So hat sie es sich in ihren geheimsten Träumen immer vorgestellt, als kleines Mädchen in Köln-Porz, als sie sich von ihrem Taschengeld ihren allerersten Groschenroman gekauft hat. Als sei es gestern gewesen! Ne, was hat sie geschwärmt für den gutaussehenden Chefarzt Dr. Stramm! Wie er mit seinem galantem Charme, dem seidigen Haaren und gepflegt-gebräunten Händen mit dunkler, sonorer Stimme (genau so stand es geschrieben) um die Gunst der feschen Silvia buhlte! „Dat issene richtije Kavalier, so en richtijes Mannsbild, nit sone warme Bruda“, schoss es ihr durch den benebelten Kopf, als sie nun in den Armen des unbekannten Retters lag, „jenau wie dä Dr. Stramm“. Benommen von Sturz und Erkenntnis stammelt Renate ein rauchiges „jenau so“ in Richtig Dr. Stramms und versucht, den vom vielen Bütze verschmierten Mund zu einem möglichst anmutigen Lächeln zu verziehen.
Der Unbekannte nickte aufmunternd, ohne ein Wort zu sagen. Renate verschlägt es den alkigen Atem. Sie musste diesen magischen Augenblick hinauszögern, egal wie. Nur wie? Ihr fällt ein, wie Silvia das Herz von Dr. Stramm für sich gewann. „Jenau, ich täusch ene Schwächeanfall vör“, denkt sich Renate gewieft. Unter Einfluss dieses tückischen Plans versucht sie sich aufzurappeln. Und in dem Moment, als sie ihren massigen Körper erfolgreich in die Luft wuchtet, lässt sie sich jeglicher Eleganz entbehrend zu Boden sinken. Der Unbekannte hat alle Mühe, sie festzuhalten, und stämmt sich zwischen Renate und das Kopfsteinpflaster. „Jetzt nur net die Ooge uffmache“, konzentriert sich diese, in ihrer doch unbequemen Position verharrend. Der imaginäre Dr. Stramm starrt die Unbekannte hilflos an, legt ihren Kopf auf sein Knie und tätschelt ihre Wangen. „Jo jenau“, glüht Renate innerlich und verliert sich in wieder ihren Jungmädchenfantasien, als Männer noch richtige Kerle und Frauen noch Objekte der Begierde waren, mit roten Rosen und selbstgeschriebenen Gedichten verwöhnt. Jedenfalls so lange, bis man verheiratet war. Und wie sie so da liegt und schwelgt und träumt und sehnt, vernimmt sie plötzlich eine Männerstimme. „Kommst du endlich, Marco?“, erklingt es ungeduldig zischend hinter ihr. „Ja, gleich, ich muss nur die Frau hier wieder auf die Beine bringen“, hört sie neben ihrem rechten Ohr, „dann bin ich wieder bei dir, Hase“. Renate reißt die Augen auf. Dicht über sie gebeugt steht ein zweiter Mann, der so gar nicht in ihr liebevoll gehegtes Groschenromanbild passt. Schlank, schwarze Lederhose, rotes Holzfällerhemd, schwarzes Halstuch, Schnäuzer. Die Hand dieses fremden Mannes liegt auf der Schulter von Dr. Stramm, ihres Dr. Stramm!, der diesem wiederum kokett zuzwinkert. Renate hat genug gesehen. Benommen rappelt sie sich auf, nuschelt ein undeutliches „Danke“ und stolpert in die nächstbeste Kneipe.
„Kölsches Jedeck, bitte“, ruft sie dem Wirt zu, setzt sich auf den gepolsterten Barhocker in die Ecke und zündet sich eine ERNTE an. Der Wirt lächelt sie freundlich an. „Na, Liebschen, du siehst ja so bedröppelt aus. Komm, wir zwei Hübschen trinken nen Prosecco zusammen. Prösterchen!“. Renate nimmt zögernd das Glas. Sie stoßen an, er reißt einen Witz, sie lachen, das Eis ist gebrochen, man versteht sich. Nach dem fünften Glas tanzt sie auf dem Tresen und grölt I AM WHAT I AM aus vollem Hals. Ihrer lilafarbenen Blumenmusterbluse mit den animalischen Glitzerapplikationen fehlen zwei Goldknöpfe, die Leggings hängt auf halb acht und ihre gesträhnten Sauerkrautlöckchen kleben schweißnass an der Stirn. Renate ist glücklich. „Eijentlisch han ich janix gegen Schwule“, lallt sie glucksend ins Ohr des Wirten, als sie um 5 Uhr morgens fröhlich die Kneipe verlässt.
© Lina