Ich frage mich oft, woher sie kommen. Diese rotierenden Gedankenloops, die sich spiralförmig durch die Gehirnwindungen schrauben. Sie kommen scheinbar aus dem nichts, die Gedanken, sie springen dich an und verfolgen dich bis ins Innerste deiner Träume. Viele denken: Ein Gedanke ist einfach DA. Falsch gedacht. Gedanken entstehen durch Denken … und …
Denken ist Arbeit.
Denken ist Prozess.
Denken ist Kampf.
Denken ist Dynamik.
Denken ist Verzweiflung und Erfüllung zugleich.
Denken kann seltsame Blüten treiben, wenn man sich allzu sehr treiben lässt.
Man nehme zum Beispiel das Selbstbewusstsein – InterimsResultat sich langsam entwickelnder Ich-Gedanken, die um das Selbst kreisen wie sensorisch verwirrte Stubenfliegen um hängende Lampenschirme. Die ewige Frage nach dem Wer-bin-ich. Als kreativ motivierter Geist probiert man abstruseste Wege, in der Anonymität der Masse seinen Platz in der kollektiven Erinnerung zu behaupten. Man stellt sich vor, wie man es anstellt, ein Gesicht zu bekommen — gesichtshaft zu werden. Dafür stellt man so einiges an: Als Teeny versucht man, mit auffallend exzentrischen Kleidern und Gedanken, die niemand versteht, etwas darzustellen; als Thirtysomething mit Texten, die von auffallend exzentrischen Gedanken formuliert werden, deren semantische Kleider niemand versteht. Wenn du es geschafft hat, etwas zu schaffen, was dir Aufmerksamkeit verschafft, stellst du dir dann vor – verunsichert durch die frisch gewonnene Popularität –, dass es da draußen natürlich immer bessere, intelligentere, gebildetere, begabtere, attraktivere, kreativere Menschen gibt. Wogegen man nichts tun kann und auch nicht sollte.
Nur, wenn dann so jemand auftaucht, von dem man glaubt, auf ihn treffen die zitierten Attribute zu, dann ist es vorerst vorbei mit dem „aktiv durch innere Denkvorgänge herbeigeführten SELBSTbewusstsein“. Dann kommt sie angekrochen durch die Hintertür, diese Wer-bin-ich-schon-was-kann-ich-schon-und-überhaupt-was-habe-ich-zu-bieten-Kopfkonstrukhirnwichserei.
Stumme Sätze wie Bin ich austauschbar? oder Wäre SIE zuerst dagegewesen: wäre SIE jetzt an meiner Stelle? torpedieren das Schädelinnere, drehen sich im Kreis, verirren sich, verwirren sich, implodieren, explodieren, denotieren, konnotieren – und tun am Ende so, als hätte es sie nie gegeben.
Apropos denken: Was ist das überhaupt – D-E-N-K-E-N?
Dieses stummlose Sprechen, über das sich denkende Menschen seit Jahrtausenden Gedanken machen? Von dem leider die meisten „denken“, es falle ihnen in den Schoß? So einfach wie Nahrung in den Mund stopfen, Flüssigkeiten schlucken oder sinnlos die Zeit verschlafen, sei es mit diesem „Denken“. Dabei wird ungern bedacht, dass Denken gelernt sein will. Dass Denken anerzogen, manipuliert, indoktriniert ist. Dabei sind doch die eigenen Gedanken das einzige, was man sich selber aussuchen kann, wenn man es kann.
Am Anfang nämlich ist alles anders: Du wirst hineingeworfen in ein nicht ausgesuchtes Dasein glotzt du mit glänzenden Kulleraugen vom Schoß deiner nicht ausgesuchten Mutter in die nicht ausgesuchte Welt und musst dich mit nicht ausgesuchten Namen wie Kevin, Jaqueline, Jennifer, Jochen, Heinz oder Horst-Günter abfinden. „Kucken, kacken, picken, packen – mehr brauchste nich?!“ (Helge Schneider)
Denkste!
Denn sobald du zum ersten Mal in die nicht selbst ausgesuchten Chemo-Windeln kackst, ist das Gehirn auf Alarmbereitschaft. Guck, es versucht zu denken! Beziehungsweise: Es versucht aus dem Wahrgenommenen, zunächst eine primitivste Erkenntnis zu formen:
Ein schönes, banales Leben leben die kleinen KognitionsDebütanten am Beginn ihrer Individulisierungskarriere. Aber kein eigenes. Denn die anderen denken für dich. Mami, Papi, Omi, Opi, deine Geschwister, deine Kindergärtnerin, deine Lehrerin, dein Lichtschalter, dein Pfarrer, die BRAVO, dein älterer Freund, dein Fernsehprogramm, dein Tanzlehrer, dein Taschenrechner, dein Schulbuch, deine gefälschten Klausurbögen, dein Fahrlehrer, deine Waschmaschine, dein Professor, deine Bücher, dein Bankkonto, deine Kommilitonen, dein Arbeitgeber, dein Nachbar, Wikipedia, die Werbung, das Gesetz, das System, der Staat – jeder behauptet dein Denken für sich.
Emanzipation von fremdem Gedankengut hilft, ist aber unbequem. Denn je älter du wirst, desto komplizierter wird es mit dem Denken: Du beginnst endlich darüber nachzudenken, was andere gedacht haben. Jahrelang manipuliert mit Gedankenmaterial zweiter Hand, das dir aus erster verkauft wird, drohst du dich zu verlieren in der unüberschaubaren Masse fremdgedachten KognitivSpams, der dir die Fähigkeit eigener GedankenGenerierung raubt.
Denken ist Luxus!
Denken kostet Zeit.
Zeit ist Geld.
Das will man haben, also überlässt man die dekadente Denkerei jemand anderem. Wozu gibt es denn heutzutage Computer?! Oder (quotenfokussierte) tollkühn frisierte Fernseh-Philosophen? Oder (kriegserprobte) phantasievolle Glaubenssysteme, die sich hervorragend als Denksurrogat eignen? Andere – Gott sei dank! – begrüßen die die Empirik: selbsterlebte Erfahrung, die dich daran hindert, Geistesgüter fragwürdiger Herkunft unhinterfragt hinzunehmen. Je nach Intelligenzquotient kommen dann das Abstraktionsvermögen, die Analyse, die Dialektik, die Kognition, die Assoziation, die Interpretation, die Logik, die Erinnerung, die Reflektion (im Idealfall sogar die Selbstreflektion), die Unterscheidung von Ist- und Soll-Zustand mit ins Boot der Erkenntnis.
Zwischendurch tut es weh.
Du wirst zurückgeworfen auf dich selbst und denkst dir deinen Teil – nämlich dann, wenn das Ist vom Soll abweicht. Wenn du laufen willst und stehen bleibst. Wenn du eine Entscheidung triffst, die entschieden falsch ist. Wenn du den falschen Weg wählst und im Kreis läufst. Wenn du wegläufst und du trotzdem mitläufst. Wenn du siehst, was andere nicht sehen. Wenn du willst, was andere nicht wollen. Wenn du auf andere hörst und dich selbst überhörst. Wenn du siehst, wie es geht, und keiner es versteht / Wenn du deiner Intuition misstraust und nur auf den reinen Verstand deine Ideen baust / Wenn deine Idee dich überzeugt und sich jeder dagegen sträubt.
Dann denkst du, du hast etwas falsch gemacht mit der ganzen Denkerei. Luftschlösser gebaut / Hirngespinste gewebt / Phantasiebilder geklebt / Fiktiven Intuitionen blind vertraut. Du fragst dich, welche billigen Gedankenfetzen sich da zum löchrigen Flickenteppich selbsternannter Erkenntnis verzwirbelt haben. Welcher Erleuchtungsteufel dich da geritten hat. Oder einfach: wer dir da ins Gehirn geschissen hat.
Dabei hast du nichts falsch gemacht.
Du hast gelebt. Im Rahmen deiner gegebenen Möglichkeiten nach-, mit-, aus-, über- und weitergedacht. Deine Grenzen erforscht und über den Tellerrand geschaut. Die Brille geputzt und in die Tiefe geblickt. Die Wolken verschoben um den Himmel zu sehen. Die Nase gereckt um den Regen zu riechen. Den Ton abgedreht um die Stille zu hören. Dich der Kleider entledigt um deinen Körper zu spüren. Deinen Mund ausgespült um die Vielfalt zu schmecken. Bist angeeckt an den Ecken des Kreises. Hast den bröckelnden Putz hinterm Vorhang gefunden. Und erkannt, dass Sehen und Sein nicht Eins sind. Dass Dinge nicht ein sondern zwei Seiten haben. Dass erste Eindrücke nicht immer die besten sind. Dass das Glück mit den Mutigen ist. Nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird. Eine Rose eine Rose eine Rose ist. Lügen mit hölzernen Nasen auf kurzen Beinen stehen. Dass Hunde nicht beißen, nur weil sie bellen. Nicht alles was glänzt, auch wirklich Gold ist. Dass ein Mensch dich nicht liebt, nur weil er die drei Worte spricht. Menschen, die lächeln, noch längst keine Freunde sind. Dass ehrlich nicht immer am längsten wehrt. Viel Licht auch längere Schatten wirft. Die Zeit nicht alle Wunden heilt. Dass Alter nicht immer vor Torheit schützt. Dass jemand nicht lebt, nur weil er lebendig ist.
Dass jemand nicht tot ist, nur weil er gestorben ist.
Dass Gedanken Paradiese sind, aus denen dich niemand vertreibt.
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