In einer lichtlosen Ecke des Raumes steht ein kleiner, blasser Regenschirm. Keiner weiß, wie lange er dort schon steht, woher er kommt und dass er überhaupt noch dort steht. Einst muss er leuchtend und farbenfroh gewesen sein, ein geschmackvoller Schirm, mit dem man sich gern zeigte und den man immer gern aufspannte, wenn die Regentropfen auf einen herunterprasseln wie zentnerschwere Steine. Das war die große Zeit des kleinen Schirms, als man noch Schutz unter seinem bunten, imprägnierten Stoffdach vor den Wassern des Lebens suchte. Damals freute sich der Schirm mit dem glänzenden Buchholzstock, gewertschätzt und gebraucht zu werden. Viele Jahre war er den Wasserscheuen ein treuer, geduldiger Begleiter, er lebte mit ihnen und den Ihren und glaubte, ein Teil von ihnen zu sein, wie sie ein Teil von ihm waren.
Da zog auf einmal über Nacht ein neuer Regenschirm in das steinerne alte Haus mit den vielen Räumen und Türen. Es war an einem dieser feuchtfröhlichen Abende im Wohnsalon, als der Bewohner des Hauses etwas zu Essen besorgen wollte. Draußen regnete es schon seit Stunden, unbemerkt von den Menschen drinnen. Da witterte ein von einem Gast mitgebrachter Schirm sofort seine Chance und bot sich schnell als Begleiter an, indem er sich ganz weit aufspannte und seine ganze ausladende Pracht ungefragt zur Schau stellte. Dieser Schirm war allerdings nicht annähernd so facettenreich und geschmackvoll wie der kleine bunte Regenschirm. Zwar war der neue Schirm größer und schützte ebenso vor Wasser, doch statt handgewebter Baumwolle spannte sich über seine glänzenden Blechspeichen nur kurzlebiges Plastik. Dafür leuchteten seine aufgedruckten Farben umso greller – man könnte fast sagen: aufdringlich –, mittels derer der neue Schirm nicht nur alle Blicke an sich heftete, sondern auch die vielen anderen, leisen, subtileren Schattierungen und Nuancen innerhalb seines Ereignishorizontes absorbierte und dadurch größer wirkte, als er war. Dagegen hatte der kleine Regenschirm keine Chance. Immer öfter wurde er zu Hause vergessen. Und so wartete er in der lichtlosen Ecke des Raumes auf den Tag, an dem er sicher wieder gebraucht würde. Aber niemand brauchte ihn mehr. Schließlich verblasste der kleine bunte Schirm und verkroch sich unter einer dicken Decke aus Staub und Spinnweben, bis er ganz vergessen wurde.
Der grelle Plastikschirm hingegen hatte die Gunst der Stunde raffiniert für sich genutzt und die Macht des großen Beschützers an sich gerissen, an die er sich klammert wie Gollum an den Einen Ring. Die Wasserscheuen jedoch, blind vor Verblendung, verkannten seine wahre Intention: Der schrille Schirm wollte in Wirklichkeit niemanden vor plötzlich einsetzendem Platzregen oder tagelang durchnässendem Nieselregen schützen; ihm ging es allein um die Abhängigkeit der Schutzsuchenden und seine uneingeschränkte Macht über sie. Clever, wie er war, glaubte er zu wissen: Nur wer sich unentbehrlich macht, der bleibt. Also tat der gewiefte Plastikschirm gegenüber seinem ahnungslosen Besitzer immer genau das, was man von ihm erwartete und nahm sich ungeniert das, was ihm diente.
Der kleine Schirm hingegen wartete weiter still und unbemerkt in seiner Ecke, ohne zu wissen, ob man sich seiner erinnerte, ja ob es draußen überhaupt regnete. Er konnte es allenfalls erahnen und sich auf seine Intuition verlassen, die immer noch in jedem Faden seines langsam verblassenden Stoffes wohnte. Dann spürte er den Regen, er spürte die schleichende Feuchtigkeit, die durch das Gemäuer der Wände bis ins Innerste dringt. Er spürte Hoffnung. In jenen Momenten malte er sich aus, wie er sich weit ausspannte und alle unter seinem dichtem bunten Regendach vereinte: Tiere, Pflanzen, ja sogar Menschen – sie alle wollte er davor schützen, von allen Wassern gewaschen zu werden! Wehmütig dachte er an die goldenen Zeiten. Wie frisch und klar und leicht es sich nach einem Schauer anfühlte, den der Beschützte trocken überstand! Wie leicht war alles vorbei.
Dann kam der Tag, an dem der grelle neue Schirm wieder einmal von seinem Besitzer ausgeführt wurde. Diesmal führte der Weg jedoch nicht an leuchtenden Schaufenstern und glatten Häuserfronten vorbei. Nein, diesmal führte der Weg quer durch den nieselregnerischen Herbstwald. Es duftete nach Laub und Leben, und die Äste und Sträucher versteckten sich in weichen milchigen Wattenebeln. Da bekam es der grelle Plastikschirm, der so gar nicht in die naturgeschützte Umgebung passte, auf einmal mit der Angst zu tun. Ob seines empfindlichen Plastikdachs wurde er sich schlagartig seiner Endlichkeit bewusst. Doch es war zu spät. Und so kam es, wie es kommen musste: Die Dornen einer Schlehe bohrten sich schonungslos durch den Kunststoff des Regenschirms, und aus dem schützenden Dach wurde ein löchriges Sieb, durch das die bleischweren Regentropfen kalt und gnadenlos auf den Kopf des Schutzsuchenden rannen. Das war der Anfang vom Ende des Blenderschirms. Er verblasste, wurde brüchig und zerfiel, als sei er nie dagewesen.
Der kleine bunte Schirm jedoch wurde an einem regnerischen Junitag von der neuen Bewohnerin des alten Hauses wiederentdeckt, als sie auf einem ihrer Streifzüge durch die vielen Räumen den kleinen dunklen Raum im Souterrain betrat. Die freundliche Frau drehte den Lichtschalter auf und blickte fasziniert auf die vielen offenbar seit langem vergessenen Gegenstände in dem Raum mit den hohen Decken, der vielleicht einmal ein Arbeitszimmer gewesen war. Wie Alice im Wunderland stöberte die elegant gekleidete Dame mit glänzenden Augen in dem übereinandergestapelten Trödel, den wurmstichigen Kommoden, korbgeflochtenen Sesseln oder brüchigen Hutschachteln, stellte sich die Menschen vor, denen diese seelenvollen Dinge vor langer Zeit gehörten, ihre ureigenen Geschichten und gelebten Anekdoten, die sich um jeden einzelnen alten Gegenstand rankten, bis sie plötzlich aus einer dunklen Ecke des Raumes ein kleiner Regenschirm anlachte. Sie erkannte die Qualität des kleinen Beschützers auf den ersten, wohlwollenden Blick und befreite ihn behutsam von Staub und Spinnweben, bis die einst warmen leuchtenden Farben des Stoffes gemächlich wieder zu strahlen begannen. Seitdem freut sie sich auf den Regen und erfreut sich dankbar ihres loyalen, treuen Begleiters. Und wenn es einmal nicht regnet, schützt er sie sogar vor zu viel Sonne …