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Das semiotische Dreieck

In einem Kaffeehaus. Jeder Tisch ist besetzt. Die kunterbunt gemischten Gäste trinken, rauchen, essen, reden. Es herrscht eine entspannte, lebensfreundliche Atmosphäre. An einem gemütlichen Fenstertisch im Raucherraum wartet Astrid bereits auf Elisa. Eigentlich waren sie für 15 Uhr verabredet, doch jetzt ist es bereits 15 Uhr 20. Astrid wird zunehmend nervöser, zündet sich eine weitere Zigarette an und beobachtet angespannt, wie proportional mit jedem tief inhalierten Zug ihr Stimmungsbarometer sinkt. Da, endlich, betritt Elisa das Café.

Elisaaaa, heyyy, da bist du ja! Komm, lass dich drücken. Schön, dich zu sehen!

Bussi rechts, Bussi links. Astrid strahlt, Elisa leuchtet.

Heyyyyy, Astrid! Du, sorry, ich hab mich mit Max verquatscht, du weißt schon, der Typ aus der Galerie …

Ach, gar kein Problem! Ich sitz‘ doch gut hier. Hauptsache, du bist da!

Typisch Elisa, immer muss man auf sie warten. Das müsste ich mal bei ihr machen …

Die beiden Freundinnen setzen sich.

Und, Liebes? Was sollen wir trinken: Prosecco?

Jetzt schon?! Bissl früh, oder? —- Ach … hast Recht. HERR OBER, ZWEI PROSECCO, BITTE!

Vorgestern kam Elisa wieder mal zum abendlichen Yogakurs zu spät. Alle mussten nochmal neu anfangen, nur wegen ihr!

Astrid, ich hab‘ super Neuigkeiten!

Wer bin ich eigentlich, dass ich mir das gefallen lasse?

Du bist schwanger!

Quatsch, nein – ICH HAB DEN JOB!

Astrid schluckt. Sie muss an ihr eigenes Bewerbungsdesaster denken. Fünfzig Bewerbungen, Null Zusagen. Sie ringt um Fassung, jetzt bloß nicht das Gesicht verlieren, bitte recht freundlich.

Wow, Elisa, das ist ja toll! Gratuliere, ich freu mich ja so für dich!

Sie hat den Job, war ja klar. Dabei habe ich mir extra einen Coach geleistet, Interviewtrainings gemacht, meinen Lebenslauf gepimpt.

Wahnsinn, oder? Nach nur einer Bewerbung … ich bin sprachlos.

Und Elisa? Schreibt eine einzige Bewerbung und es klappt. Kein Wunder – sieht gut aus, hat ´nen coolen Freund und ´nen reichen Papa.

Hätte ich nie nie Nie NIEMALS gedacht. Zumal sich dort – das hat mir Vanessa gesteckt – wohl Hunderte beworben haben.

Na  d a s  Vorstellungsgespräch hätte ich gerne gesehen. Wahrscheinlich hat sie sich aufgebrezelt und dem Chef – Klimper, Klimper! – schöne Augen gemacht. Könnte ich nicht, sowas. Aber offenbar kommt man damit durch. Warum meint es das Leben nicht auch einmal gut mit mir?

Jetzt muss es endlich auch bei dir klappen, dann bin ich vollends happy! Komm, lass uns anstoßen. Auf den neuen Job, auf das Leben!

Wie bitte? „Endlich auch bei dir klappen“? Soll das etwa heißen, ich bin ein Looser?!

Na dann Prost, Elisa. Auf deinen neuen Job!

Als ob ich nichts zu bieten hätte! Ist denn ein Bachelor in Psychologie nichts? Plus einem Auslandsemester in Florenz und zwei Praktika!

Jetzt sag schon, Astrid – wie läuft‘s bei dir? Hast du dich schon bei Thomas gemeldet? Du weißt schon, der Typ aus der Werbeagentur, die eine Sachbearbeiterin sucht.

Elisa, ich glaube, dass ich als Sachbearbeiterin etwas überqualifiziert wäre.

Ach, ist doch nur ein Sprungbrett. Der berühmte Fuß in der Tür.

Die Frau Magister hat gut reden …

Aber ich habe doch auch ein Studium vorzuweisen!

Ja, aber… na ja, was soll ich sagen … mit einem Bachelor ist es halt ein bisschen schwerer. Aber – so what! Es braucht nicht jeder einen Magister.

Nicht jeder?! Bin ich etwa Krethi und Plethi? Wenn ich ehrlich zu mir bin, ärgert es mich natürlich schon, dass ich nicht noch die zwei Jahre Studium drangehängt habe. Immerhin war da dieser gut bezahlte Nebenjob, der hätte mir das Master-Studium locker finanziert. Stattdessen bin ich sechs Monate durch Südostasien gereist, danach noch eine Zeit lang durch Australien und Südafrika. Tja, wenigstens habe  i c h  die Welt gesehen!

Ach, ich habe einfach nur Glück gehabt. Es gibt so viele Leute, die auch ohne Titel Karriere machen!

Und warum hast du dann einen?

Einmal angefangen, wollte ich das Studium auch zu Ende machen. Halbe Sachen liegen mir nicht.

Schweigen. Eisiges Schweigen. Der Prosecco beginnt im Glas zu gefrieren.

HERR OBER, NOCH ZWEI PROSECCO, BITTE!

Astrid schaut Elisa verstohlen von der Seite an: Sie sieht heute gar nicht gut aus. Augenringe, Pickelchen, und dazu noch etwas aufgedunsen. Typische Abendschönheit.

Gut schaust heute aus, Elisa!

Überhaupt kommt ihr Gesicht so langsam in die Jahre. Komisch, ist mir vorher noch nie so aufgefallen, aber bei Tageslicht sieht man schon deutliche Knitterfältchen und auch ihre einst prallen Bäckchen beugen sich bereitwillig der Schwerkraft. Man bleibt eben nicht ewig jung und schön. Kann sie mal sehen, wie das ist.

Oh, Danke! Du aber auch, Astrid! Schickes Kleid, genau deine Farbe.

Hallo? Höre ich da einen sarkastischen Unterton?

Was? Nein! Ich mein’s ernst!

Ja klar. Wenn man das schon dazusagen muss, ist es mit der Ernsthaftigkeit bekanntlich nicht weit her.

Willst du etwa damit sagen, dass ich dich anlüge?

Das habe ich nicht gesagt.

Man muss nicht immer sagen, was man meint.

Woher willst du wissen, was ich gemeint habe? Kannst du Hellsehen?

Die Klamotten waren auch schon mal besser kombiniert. Immerhin, sie hat die Haare schön.

Ich kenn dich halt schon lange.

Offenbar nicht lang genug, denn so hab ich das sicher nicht gemeint.

Da! „Sicher nicht“ – schon wieder betonst du die Glaubwürdigkeit deiner Aussage!

Ja und? [Pause] Kann das sein, dass du heute a bissl streitsüchtig bist, Astrid?

Wie kommst du denn darauf? Ich war doch die ganze Zeit gut drauf! Jetzt allerdings nicht mehr.

Und das ist jetzt meine Schuld?

Nein, überhaupt nicht, gar nicht! Aber man wird doch wohl noch seine Meinung kritisch äußern dürfen!

Dann bist du heute aber ganz schön kritisch. Hand aufs Herz: Hast du wieder eine Job-Absage bekommen oder was ist los?

„Wieder“? Weil mich ja eh keiner nimmt?

Astrid. Das hab ich doch nicht gesagt!

Aber gedacht.

Woher willst du das wissen, was ich gedacht habe? Kannst du Hellsehen?

Elisa bebt innerlich. Wie der erste Sonnenaufgang in einem unbekannten Land dämmert in ihr eine Erkenntnis, die alles bisher zusammen Erlebte in ein beklemmendes, monochromes Licht taucht. ‚Wie eine Blinde, die auf einmal sehen kann‘, schießt es ihr in den Kopf. Aus dem Ozean gemeinsamer Erinnerungen drängt plötzlich ein Abend vor sechs Jahren an die Oberfläche ihres Bewusstseins. In diesem Stillleben der Vergangenheit sieht sie sich mit Astrid am runden Holztisch in der Küche ihrer damaligen Wohnung sitzen, bei einem Glas Rotwein, Jazz und vielen Zigaretten. Sie kennen sich erst seit einem Jahr, doch für Elisa fühlt es sich nach ‚schon immer‘ an, so vertraut ist ihr Astrid.

Nach dem zweiten Glas fasst sich Elisa ein Herz und erzählt Astrid zum ersten Mal von ihren Problemen mit dem Professor, dessen Assistentin sie einst war. Es war ihr allererster Job. Anfangs war sie so glücklich, trotz ihres Orchideenfachs und allen Unkenrufen kapitalgesteuerter Einzelkämpfer zum Trotz diese Stelle bekommen zu haben. Doch irgendwann wuchsen aus den vielen kleinen Sticheleien ungerechtfertigte Vorwürfe, was schließlich in peinlichen Anspielungen auf ihre weiblichen Attribute gipfelte und jeden neuen Arbeitstag zu einem neuen Angsttag werden ließen. Elisa erzählte also zum ersten Mal in ihrem Leben einem anderen Menschen von all ihren erlittenen Demütigungen, Respektlosig- und Anzüglichkeiten, wie sehr sie darunter leide und wie wenig sie damit umzugehen wisse. Sogar von den gesundheitlichen Folgen und deren strapaziöser Bewältigung. Wie aus einer geschüttelten Sektflasche sprudelten die Worte aus Elisa heraus und jedes endlich laut ausgesprochene Wort fühlte sich so wohltuend und heilsam an wie ein sauberes Heftplaster auf einer frischen Schnittwunde. Und was tat Astrid?

HERR OBER, EINEN MARILLENSCHNAPS, BITTE! Willst du auch einen?

Nein Danke, ich bin ja generell nicht so für Alkohol.

Aber für Prosecco?

Das ist nicht das Gleiche. Schnaps ist nicht meine Liga.

Und bin ich außerhalb deiner Liga, wenn ICH einen trinke?

Schweigen. Der Schnaps kommt. Er wird hektisch geext.

Astrid, du … ach … ich sag besser  nichts mehr, es wird ja sowieso alles gegen mich verwendet.

Ja, genau. Ich bin nur auf Streit aus und verdrehe dir immer jedes Wort im Munde.

Damals in der Küche sagte Astrid jedenfalls – nichts. Kein einziges Wort. Kein Tröstendes des Bedauerns, kein Wärmendes der Unterstützung. Keine Empathie, keine Spur des Mitfühlens, und wahrscheinlich auch nicht des Zuhörens (schon damals beschlich mich das Gefühl, mit meinen Ausführungen Astrids Geduld zu strapazieren: Zu oft irrte ihr Blick durch den Raum, zu oft schielten ihre Augen aufs Handy – natürlich nicht ohne sich gleich dafür zu entschuldigen). Als meine Erzählung endete, ergriff Astrid das Wort. Doch statt der inständig herbeigesehnten Leides-Teilung reklamierte Astrid das Attribut der Alleinleidenden für sich, indem sie eklektisch ihre eigenen, schlimmen Erfahrungen aufzählte. Wie dramatisch ihre Situation war, welche Opfer sie bringen musste, und wie froh sie war, von so guten Freunden aufgefangen worden zu sein. Sie erzählte und erzählte und erzählte nur von sich, sodass mein jüngst widerfahrenes, frisches Leid zur Gänze in ihrem längst Durchlebten aufging. Am Ende des Abends musste ich  s i e  trösten, obwohl ich selbst des Trostes bedurfte.

Damals vermutete ich noch Wortfindungsschwierigkeiten oder zwischenmenschliche Ungeschicktheit. Heute vermute ich mangelndes Selbstwertgefühl, das sich in Missgunst entlädt. Soll es den anderen doch auch mal schlecht gehen, nicht nur mir! Aber ich kann mich auch irren. Vielleicht bin ich heute einfach nur zu streng mit Astrid. Außerdem hasse ich Streit.

Weißt du was, Astrid? Wir zwei Hübschen sollen wir uns wieder mal was richtig Gutes gönnen. Lass uns doch shoppen gehen! Ein Friseurbesuch! Oder chic essen!

Oder vielleicht ein luxuriöses Wellnesswochenende in Dubai buchen? Holger hat schon Recht: Elisa ist ein verwöhntes Einzelkind.

Wäre schön, aber dazu fehlt mir im Moment das Geld.

Aber wer war ich dann die ganzen Jahre für Astrid – Seelentröster, Stilgeber, Kurzweiler? Freundin? Feindin? Der Boden unter meinen Füßen beginnt zu schwanken.

Ach, bitte, Astrid, ich lad‘ dich ein!

Als ob ich Elisas Almosen nötig hätte! Aber andererseits … sie hat ja genug Geld. Dazu der bestimmt gutbezahlte neue Job, der gutzahlende Papa, und ihr Typ verdient sicher auch nicht wenig. Überhaupt – ist Freundschaft denn nicht immer auch ein Geben und Nehmen? Und wenn der eine Freund weniger hat, warum sollte er nicht von dem nehmen, der mehr hat? Ist denn nicht gar Nehmen seliger als Geben?*

Ja, von mir aus. Können wir ja irgendwann mal machen.

Wieder Schweigen. Zigarette. Verlegenes Fingerkuppendurchzählen und sinnloses Haarlockendrehen.

Astrid, darf ich dich etwas fragen? Bitte verstehe mich jetzt nicht falsch, aber mir kommt es so vor, als ob ich da gerade bei dir auf eine Eisbergspitze gestoßen bin. Was willst du mir wirklich sagen? Heraus mit der Sprache – was ist los?

Es ist gar nichts, Elisa. Ich hab heute einfach nicht meinen besten Tag.

Betretenes Schweigen. Astrid kramt in ihrer Tasche. Elisa blickt aufs Handy, während sich auf ihrem Dekolletée rote Flecken bilden. In ihren Augen sammelt sich Flüssigkeit, die jeden Moment herauszuschwappen droht.

Ich dachte eigentlich, wir sind Freundinnen! Und gehört nicht zu den wesentlichen Eigenschaften einer Freundschaft, dass man einander Wohlwollen entgegenbringt?

Du glaubst, ich sei nicht wohlwollend?

Ja, das glaube ich.

Und woran machst du das fest?

An deinen Reaktionen auf mich.

Welche Reaktionen genau?

Zum Beispiel auf meinen neuen Job. Für mich bedeutet das so viel, und das weißt du. Nach allem, was mir damals widerfahren ist. Du erinnerst dich?

Woran?!

Na an die Geschichte mit dem schmierigen Professor, dessen Assistentin ich war – weißt du das nicht mehr? Es war in der Küche in meiner alten Wohnung in der Taubstummengasse, als ich dir von seinem demütigenden Verhalten erzählte, von seinen fadenscheinigen Anspielungen und dreisten Anzüglichkeiten.

Welcher Professor? [Pause] Ach DAS … geh bitte, das ist doch so viele Jahre her.

Für mich ist es wie gestern, weil es um etwas Grundsätzliches geht: Empathie. Du hast mir damals keinerlei Mitgefühl entgegengebracht. Schlimmer noch, du hast überhaupt nicht reagiert, sondern einfach deine Geschichte drübergelegt.

Drübergelegt?! Wie hätte ich denn deiner Meinung nach reagieren sollen? Mitleiden? Mitweinen? Was hätte das denn geändert?

Na ja, nicht gerade Mitweinen … ein paar Worte des ehrlichen Bedauerns hätten es auch getan. Ich hatte damals jedenfalls nicht das Gefühl, dich mit meiner Geschichte zu berühren. Daher frage ich dich heute: Warum freust du dich nicht für mich, wenn ich mich freue, warum tröstest du mich nicht, wenn ich traurig bin? Und – warum stellst du mir eigentlich keine Fragen?

Aber ich freu mich doch für dich, Elisa! Du verstehst das alles völlig falsch. Und jetzt genug von alten Problemen, lass uns zwei jetzt endlich auf deinen neuen Job anstoßen!

HERR OBER, NOCH ZWEI PROSECCO, BITTE!

Es gäbe noch viel zu sagen und noch mehr zu fragen, aber das Ungesagte besitzt der Aussage genug. Was ist das für eine Freundin, die jedem meiner Worte auflauert wie ein hungriger Wolf dem Lamm? Die sich in der semantischen Kehrseite ihrer Ethymologie suhlt, um diese letzterdings als Lanze gegen mich zu verwenden? War das je Freundschaft? Oder ist das schon Feindschaft?

Die Luft hier wird dünner. Ich muss weg von diesem lebensfeindlichen Ort. Will atmen, reinen Sauerstoff inhalieren, nicht an verpesteter Luft ersticken. Besser einsam im Reinen als gemeinsam alleine!

Nein, danke, Astrid, ich muss jetzt leider los.

Och, jetzt auf schon? Schade, wo wir doch so nett geplaudert haben. Aber ok, zahlen wir. Wann sehen wir uns?

Hab‘ diese Woche so viel zu tun, eventuell nächste Woche.

Ok, wir telefonieren.

HERR OBER, DIE RECHNUNG BITTE  … JA, ALLES ZUSAMMEN.

 

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*Aus der Bibel,  Apostelgeschichte 20, Vers 35

 

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Der Regenschirm

In einer lichtlosen Ecke des Raumes steht ein kleiner, blasser Regenschirm. Keiner weiß, wie lange er dort schon steht, woher er kommt und dass er überhaupt noch dort steht. Einst muss er leuchtend und farbenfroh gewesen sein, ein geschmackvoller Schirm, mit dem man sich gern zeigte und den man immer gern aufspannte, wenn die Regentropfen auf einen herunterprasseln wie zentnerschwere Steine. Das war die große Zeit des kleinen Schirms, als man noch Schutz unter seinem bunten, imprägnierten Stoffdach vor den Wassern des Lebens suchte. Damals freute sich der Schirm mit dem glänzenden Buchholzstock, gewertschätzt und gebraucht zu werden. Viele Jahre war er den Wasserscheuen ein treuer, geduldiger Begleiter, er lebte mit ihnen und den Ihren und glaubte, ein Teil von ihnen zu sein, wie sie ein Teil von ihm waren.

Da zog auf einmal über Nacht ein neuer Regenschirm in das steinerne alte Haus mit den vielen Räumen und Türen. Es war an einem dieser feuchtfröhlichen Abende im Wohnsalon, als der Bewohner des Hauses etwas zu Essen besorgen wollte. Draußen regnete es schon seit Stunden, unbemerkt von den Menschen drinnen. Da witterte ein von einem Gast mitgebrachter Schirm sofort seine Chance und bot sich schnell als Begleiter an, indem er sich ganz weit aufspannte und seine  ganze ausladende Pracht ungefragt zur Schau stellte. Dieser Schirm war allerdings nicht annähernd so facettenreich und geschmackvoll wie der kleine bunte Regenschirm. Zwar war der neue Schirm größer und schützte ebenso vor Wasser, doch statt handgewebter Baumwolle spannte sich über seine glänzenden Blechspeichen nur kurzlebiges Plastik. Dafür leuchteten seine aufgedruckten Farben umso greller – man könnte fast sagen: aufdringlich –, mittels derer der neue Schirm nicht nur alle Blicke an sich heftete, sondern auch die vielen anderen, leisen, subtileren Schattierungen und Nuancen innerhalb seines Ereignishorizontes absorbierte und dadurch größer wirkte, als er war. Dagegen hatte der kleine Regenschirm keine Chance. Immer öfter wurde er zu Hause vergessen. Und so wartete er in der lichtlosen Ecke des Raumes auf den Tag, an dem er sicher wieder gebraucht  würde. Aber niemand brauchte ihn mehr. Schließlich verblasste der kleine bunte Schirm und verkroch sich unter einer dicken Decke aus Staub und Spinnweben, bis er ganz vergessen wurde.

Der grelle Plastikschirm hingegen hatte die Gunst der Stunde raffiniert für sich genutzt und die Macht des großen Beschützers an sich gerissen, an die er sich klammert wie Gollum an den Einen Ring. Die Wasserscheuen jedoch, blind vor Verblendung, verkannten seine wahre Intention: Der schrille Schirm wollte in Wirklichkeit niemanden vor plötzlich einsetzendem Platzregen oder tagelang durchnässendem Nieselregen schützen; ihm ging es allein um die Abhängigkeit der Schutzsuchenden und seine uneingeschränkte Macht über sie. Clever, wie er war, glaubte er zu wissen:  Nur wer sich unentbehrlich macht, der bleibt. Also tat der gewiefte Plastikschirm gegenüber seinem ahnungslosen Besitzer immer genau das, was man von ihm erwartete und nahm sich ungeniert das, was ihm diente.

Der kleine Schirm hingegen wartete weiter still und unbemerkt in seiner Ecke, ohne zu wissen, ob man sich seiner erinnerte, ja ob es draußen überhaupt regnete. Er konnte es allenfalls erahnen und sich auf seine Intuition verlassen, die immer noch in jedem Faden seines langsam verblassenden Stoffes wohnte.  Dann spürte er den Regen, er spürte die schleichende Feuchtigkeit, die durch das Gemäuer der Wände bis ins Innerste dringt. Er spürte Hoffnung. In jenen Momenten malte er sich aus, wie er sich weit ausspannte und alle unter seinem dichtem bunten Regendach vereinte: Tiere, Pflanzen, ja sogar Menschen  –  sie alle wollte er davor schützen, von allen Wassern gewaschen zu werden! Wehmütig dachte er an die goldenen Zeiten. Wie frisch und klar und leicht es sich nach einem Schauer anfühlte, den der Beschützte trocken überstand! Wie leicht war alles vorbei.

Dann kam der Tag, an dem der grelle neue Schirm wieder einmal von seinem Besitzer ausgeführt wurde. Diesmal führte der Weg jedoch nicht an leuchtenden Schaufenstern und glatten Häuserfronten vorbei. Nein, diesmal führte der Weg quer durch den nieselregnerischen Herbstwald. Es duftete nach Laub und Leben, und die Äste und Sträucher versteckten sich in weichen milchigen Wattenebeln. Da bekam es der grelle Plastikschirm, der so gar nicht in die naturgeschützte Umgebung passte, auf einmal mit der Angst zu tun.  Ob seines empfindlichen Plastikdachs wurde er sich schlagartig seiner Endlichkeit bewusst. Doch es war zu spät. Und so kam es, wie es kommen musste: Die Dornen einer Schlehe bohrten sich schonungslos durch den Kunststoff des Regenschirms, und aus dem schützenden Dach wurde ein löchriges Sieb, durch das die bleischweren Regentropfen kalt und gnadenlos auf den Kopf des Schutzsuchenden rannen. Das war der Anfang vom Ende des Blenderschirms. Er verblasste, wurde brüchig und zerfiel, als sei er nie dagewesen.

Der kleine bunte Schirm jedoch wurde an einem regnerischen Junitag von der neuen Bewohnerin des alten Hauses wiederentdeckt, als sie auf einem ihrer Streifzüge durch die vielen Räumen den kleinen dunklen Raum im Souterrain betrat. Die freundliche Frau drehte den Lichtschalter auf und blickte fasziniert auf die vielen offenbar seit langem vergessenen Gegenstände in dem Raum mit den hohen Decken, der vielleicht einmal ein Arbeitszimmer gewesen war. Wie Alice im Wunderland stöberte die elegant gekleidete Dame mit glänzenden Augen in dem übereinandergestapelten Trödel, den wurmstichigen Kommoden, korbgeflochtenen Sesseln oder brüchigen Hutschachteln, stellte sich die Menschen vor, denen diese seelenvollen Dinge vor langer Zeit gehörten, ihre ureigenen Geschichten und gelebten Anekdoten, die sich um jeden einzelnen alten Gegenstand rankten, bis sie plötzlich aus einer dunklen Ecke des Raumes ein kleiner Regenschirm anlachte. Sie erkannte die Qualität des kleinen Beschützers auf den ersten, wohlwollenden Blick und befreite ihn behutsam von Staub und Spinnweben, bis die einst warmen leuchtenden Farben des Stoffes gemächlich wieder zu strahlen begannen. Seitdem freut sie sich auf den Regen und erfreut sich dankbar ihres loyalen, treuen Begleiters. Und wenn es einmal nicht regnet, schützt er sie sogar vor zu viel Sonne …

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Von AnfAngst an

Ein kleines Kind liegt in seinem Holzgitterbett. Es ist Nacht, durch scherenschnittschwarze Baumkronen drängt blasses Mondlicht in den finsteren Raum. Alles schläft, atmet schwer und sammelt sich für einen neuen, ungelebten Tag. Nur nicht das Kind. Es wälzt sich herum zwischen Daunenfedern, Kuscheltieren und Rotztüchern. Was es am Alpträumen hindert, ist ein durchdringendes Gefühl der Unruhe, das den Magen rhythmisch vibrieren lässt und die Halsschlagader hörbar macht. Was das Kind mit fünf noch nicht weiß: es hat Angst. Angst vor der Dunkelheit, vor dem Alleinsein in seinem Zimmer, vor dem Alleinsein auf dem riesigen, unverstandenen Planeten. Es blickt in den Nachthimmel. Wie groß ist das Universum? Die Sterne. Wie weit sind sie weg? Der Mond. Wie kann ich zu ihm reisen? Irgendwann will es wissen, warum es lebt. Was, wenn meine Eltern morgen tot sind? Sein Vater erklärt ihm den Himmel, nicht die Erde.

© Lina Bibaric

Haus im Kopf – Nizza
© Lina Bibaric

Das Kind wird älter, geht in den katholischen Kindergarten, begleitet die Großmutter in die Kirche. Hört zum ersten Mal vom Leib und Blut Jesu und stellt entsetzt fest, dass man beides schlucken muss. Das versteht das Kind nicht. Auch in der Grundschule bekommt es keine Antwort auf seine vielen Fragen. Stattdessen singt es fromme Lieder unter der geschundenen Leiche am hölzernen Kreuz. Dann beginnt der Kommunionsunterricht. Das Kind erfährt zum ersten Mal von teuflischen Verrätern und reuigen Sündern, von schwachen Frauen und starken Männern. Und von einem Mann, der für dich, Dich, ja DICH allein gestorben ist. Aber ich habe ihn doch nicht darum gebeten! Ein strenger Gottesdiener lehrt das unverdorbene Kind Buße, Bescheidenheit und Demut. Immer heiter, Gott hilft weiter. Lehrt es zu Beten und zu Beichten. Was soll ich denn beichten, mit Neun? Also erfindet das wohlerzogene Kind seine Sünden. Es lernt zu lügen. Paradoxe Intervention auf Anweisung von oben? Habe 50 Pfennig Wechselgeld vom Bäcker behalten! Gott der Herr schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden. Ich habe gesündigt. Es lernt die 10 Gebote. DU SOLLST AN EINEN GOTT GLAUBEN. Warum? Wer alles glaubt, musst nichts mehr wissen. Wie praktisch, wie manipulierbar, Generalschlüssel zum christlichen Erfolg. DU SOLLST KEIN FALSCHES ZEUGNIS GEBEN. Was heißt das, Herr Pfarrer? DU SOLLST NICHT LÜGEN. Aber …? Wirst du ins Fegefeuer geworfen. Keine weiteren Fragen, euer Ehren.

So werden unsere blühendsten Entdeckerjahre von lebendiger Angst getrübt. Das mit der Nächstenliebe wird nicht näher erläutert, es geht um Schuld und Sühne. Und weil du von Geburt an schuldig bist, hast du etwas auf dem Kerbholz, von dem du als dummes Kind natürlich noch nichts weißt. So wirst du zum schuldlosen Sünder. Fühlst dich schuldig für die Tränen deiner Mutter, die Enttäuschung deines Vaters. Meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld. Du hast Angst vor dem Fegefeuer, Angst vor Satan, Angst vor Pfaffen, Angst vor dem Vater, Angst vor der Mutter. Also musst du dich ergeben und demütig sein und darfst ab sofort Niemandem mehr vorm Zubettgehen den Schlafanzug zerknoten, denn das ist Sünde! Der liebe Gott sieht schließlich alles. Das Christentum, heilige Mutter aller Ängste.

Dann gehst du zur Schule. Die Angst geht mit dir. Vor den Noten, vor den Lehrern, vor dir selbst. Du wächst heran. Beginnst dich für dein Äußeres zu interessieren, das dir grundlegend missfällt. Und auf einmal hast du Angst vor den Blicken und Urteilen der anderen. Verkleidest dich unter sonderbaren Kleidern ohne dein Selbst zu erkennen. Findest dich hässlich in deiner grobgerasterten Wahrnehmung, die noch nicht feinjustiert ist. Als das Abitur droht, verdrehen dir achtzehn Jahre alte, sorgengereifte Ängste den Kopf und entbinden die Versagensangst. Verzweifelt prügelst du Second-Hand-Wissen bis zur Erschöpfung in dein vernebeltes Hirn, bis du in der mündlichen Prüfung neben dir sitzt und hilflos beobachten musst, wie dein autarker Mund falsch Gewusstes reproduziert. Trotzdem bestehst du. Was nun? Studieren? Arbeiten? Nichts interessiert dich am Berufsleben. Zu jung für professionelles Altsein.

Also studierst du. Stehst plötzlich allein in der riesigen Uni. Geworfenheit, Leere. Keiner hilft dir, keiner weist dir den Weg. Dabei willst du doch nur weitergehen. Du blätterst durchs 800 Seiten dicke Vorlesungsverzeichnis, liest die Titel der Lehrveranstaltungen. Du verstehst sie nicht, wie also sollst du die Kursinhalte verstehen? Du fühlst dich minderwertig, die Angst vor dem Dummsein lacht hämisch an deinem Ohr, bis dein Bauch sich für die richtigen Vorlesungen entscheidet, sogar die richtigen Menschen auf jugendlich mäandernden Um- und Abwegen. Auch dein Privatleben mäandert. Du hast gescheiterte Beziehungen, andere haben Beziehungen, die scheitern. Man tauscht sich aus, vergleicht, beschreibt, urteilt, analysiert, spekuliert. Freundschaften werden geschlossen und gelöst. Du stürzt dich von Party zu Party, von Rausch zu Rausch, drei Tage die Woche, acht Stunden am Tag. Tune in turn on drop out. Weißt alles und nichts. Erkennst die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, von Hineinrufen und Herausschallen. Vom Antun und nicht Angetan-werden-wollen. Interessierst dich für Yoga und Ayurveda, Ashanas und Nagchampas. Bestehst von einem Tag zum Nächsten, Nebeltage eines interimistischen Lebens. Zwischendurch beißt du dich durch den akademischen Wissensbeton wie ein hungriger Biber durch Pappelstämme. Aber hinter dem Damm lauert bereits die junge Prüfungsangst. Du glaubst sie in den Griff zu bekommen. Nichts greift. Also lenkst du dich ab, liegst wach (größeres Bett, keine Gitter), lernst. Dann die Prüfung. Du zitterst, stotterst, zweifelst, aber du bestehst. Du könntest dich freuen, die Befreiung vom Korsett der auferlegten Wahrheit feiern, würde nicht die Zukunftsangst schon auf dich warten. Vorbei die Zeiten des Müßiggangs, der durchfeierten Nächte und verschlafenen Tage. Jetzt droht die nackte Existenz mit ihren unerbittlichen Fragen. Womit wirst du dein Geld verdienen? Wie wirst du dein Leben finanzieren? Wer braucht dich? Was brauchst du? Da stehst du nun, in der Tasche den Magister – zwei Orchideenfächer, ein Massenfach – aber keinen einzigen Cent. Die Angst raunt dir Teuflisches ins Ohr. Endlose Schwarzprosa allgegenwärtiger ontologischer Gefahr. Kein Geld, keine Arbeit, keine Wohnung, kein Urlaub, keine Platten, kein Drink in der Lieblingsbar, Endstation Hoffnung.

Du schluckst alles hinunter und bewirbst dich auf den ersten Job. Die erste Absage trägst du mit Fassung, die zweite lachst du weg, aber mit der dritten bröckelt deine zerbrechlich große kleine Welt und die effizient programmierte algorithmische Existenzangst übernimmt das Ruder. Um nicht auf der Straße zu enden, machst du ein Praktikum nach dem anderen. Versprichst dir viel von falschen Versprechungen. Dann endlich, der erste, bezahlte Job. Und an seiner Seite, die Angst vor dem Jobverlust. Dass man ausgerechnet dir diese großartige Chance gegeben hat! Dir, DIR! Wo doch alle anderen alles besser können als ich. Also sei dankbar, sei fügsam! Dixit Algorismi. Du versklavst dich ein, zwei, drei Jahre, bleibst ein austauschbares Rädchen im statischen Machtgetriebe. Hast Erfolge, die dir immer wieder gern missgönnt werden. Hast dich selten einsamer gefühlt, allein unter Mittelmäßigen, die deinen machtgeilen Chef umkreisen wie weiße Zwerge das schwarze Loch. Selbsternannte Weltretter, die nur sich selbst retteten, und ein einäugiger Machiavelli unterm Regenbogen der Blinden. Am Anfang willst du sie entblößen, die nett Maskierten, ihr durchschaubares Kalkül mit immer dickeren Schichten wasserfester Theraterschminke retuschierend, durch die deine kritischen Augen hindurchdringen wie Grashalme durch Asphalt. Du willst kämpfen gegen die Windmühlen der flachen Hierarchie, Fata Morgana der Gutgläubigkeit. Doch du bist allein unter Missgünstlingen, Selbstdarstellern, Weltverschlimmerern. Der Sauerstoff im Luftschloss wird toxisch; Angst zu ersticken.

Auf dem Weg zur Arbeit sitzt du in der U-Bahn zwischen lauter Ichs und zerfledderten Gratiszeitungen. Du setzt deine Kopfhörer auf, ziehst dir wirre Sounds rein, liest ein Buch und verkriechst dich in deinen provisorischen Individualkokon. Trennst Innenwelt von Außenwelt, durch die der Sturm fönt. Zeichen der globalen Erderwärmung? Du mitleidest mit all den Menschen, deren Häuser in den Fluten versinken. Dass man überhaupt der Empathie fähig ist, bevor die Menschheit ausstirbt. Was deiner Meinung nach in spätestens 100 Jahren der Fall sein wird, wenn nicht schon eher. Vorher willst du aber noch viel reisen, möglichst CO2-Neutral. Außerdem wird Fliegen sowieso immer gefährlicher. Was, wenn man abstürzt, von Fanatikern entführt, gar in die Luft gesprengt wird? Auch im Zug ist dir oft ganz mulmig zumute, seit du an einem bedrohlich heißen Sommertag im U-Bahnschacht stecken geblieben bist. Auf einmal roch es komisch. Chemisch, irgendwie. Giftgas, wie damals in der U-Bahn von Tokio? Ein Pawlow’scher Hund ist immer wachsam. Das Zweirad ist für dich auch keine Alternative. Zu hektisch der Straßenverkehr, allein die vielen Löcher im Asphalt, der Rollsplit, die Öllaken. Die Risse in der Brücke. Das Verletzungsrisiko. Überhaupt gewinnt mit jedem Lebensjahr die Gesundheit an Stellenwert. Allein die Angst vor den E’s in Lebensmitteln. Also planst du für deinen nächsten Einkauf im Biosupermarkt immer eine halbe Stunde länger ein, zwecks Studiums der Inhaltsstoffe via Codecheck. Nach der obligatorischen Gesundenuntersuchung verschreibt dir der Hausarzt deines Misstrauens Medikamente, die du brav beim Wucherapotheker um die Ecke statt günstig im Internet kaufst. Du weißt schon, die Angst vor gefälschten Medikamenten aus Fernost.

Überhaupt, die Angst und das Internet, virtuelles Füllhorn irrationalster Ängste, liaison dangereuse. Datenklau. Phishing. Cybermobbing. Spionagetrojaner. NSA. 1.000.000.000 Virenangriffe pro Tag. Virale Angst, und du mittendrin, mit deinen social-medial verschenkten Daten, FruchtGlasFliege auf dem Weg zum nächsten faulen Apfel, verheddert im weltweiten Spinnennetz. Du drehst das WLAN ab und dich im Kreis. Läufst eine Runde um den Block, um wieder geradeaus zu sehen. Kommst nicht weit, weil ein plakativer Aufruf mit sechs Großbuchstaben in dir die nächste, brandneue Angst generieren will. Am Abend schaltest du den Fernseher an. Siehst Krieg, Hunger, Naturkatastrophen, ertrinkende Menschen im Mittelmeer, Terroranschläge, Ölteppiche. Versinkende Inseln, gerodete Wälder, aussterbende Tiere, bedrohte Pflanzen, schmelzende Gletscher, verendende Kinder und verzweifelte Mütter. Multiplikatoren der Angst, gezapptes Grauen. Angst, die um sich beißt wie ein tollwütiger Köter, von der die Aasgeier profitieren und dich ausrauben mit teuer bezahlten Sicherheitsmauern aus billigem Pappmaché. In diesem engmaschigen Beklommenheitsgeflecht versuchst du dir mit der Machete der Zuversicht deinen Weg zu bahnen. Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, warnt dein Verstand. Gefahr erkannt, Gefahr verkannt.

© Lina Bibaric

Winterabend im Wienerwald – Austria.
© Lina Bibaric

Irgendwann wird dir das alles zu viel. Die Stadt, der Job, das angsterfüllte Leben. Du willst raus, weg, dorthin, wo nur genommen, was gebraucht und nur gebraucht, was gegeben wird. In dir erwacht eine schneewittchenhafte Ahnung von jenem Ort, den du als Kind geliebt und als Erwachsener vergessen hast. Warum, auch. Aber du erinnerst dich, du erinnerst dich an Dich. Und plötzlich liegst du einfach da, findest dich wieder inmitten der ungemähten Wildblumenwiese. Allein, allein mit dir selbst, nicht unter Menschen. Aber es ist ein neues Allein, ein ALL-ein, ganz ohne Angst, die du ignorierst wie die Zecken und Insekten und FSMEs und Borreliosen und stattdessen deine Aufmerksamkeit auf die Margeriten, den Storchschnabel und den blühenden Klee richtest. Den Liedern der Meisen und Finken, den flüsternden Gesprächen der Buchen und Eichen lauscht. Die unbezahlten Stunden vergisst und dich geschenkter Sekunden erfreust. Du bist eins mit dir, dem Himmel, den Wolken, ja sogar den Zecken und Insekten. Und auf einmal ist die verlorene Zeit wieder da und du galoppierst sattellos auf jungen Pferden durch die endlosen Wälder, den Wind der Unbekümmertheit um die Ohren. Du wühlst beim Spielen mit den Händen im Dreck und beißt anschließend herzhaft in einen wahrscheinlich gespritzten Apfel. Bretterst freihändig auf deinem klapprigen FaltFahrrad bergab und später zu dritt auf einem frisierten Moped über Feldwege, Echo eines sorgenfreien Lebens ohne den hässlichen alten Affen. Du atmest tief, tiefer und entspannst jedes Glied deines angespannten Körpers. Allmählich wird es hell. Der neue, noch ungelebte Tag liegt dir zu Füßen. Du entscheidest, dich zu freuen. Es fühlt sich fremd und zugleich vertraut an, wie sich die ungebremsten Glücksmoleküle in dir verteilen und die Angstpartikel nach und nach ersetzen. Du wirst lernen, damit umzugehen.

Ja, Angst hattest du schon damals, im Holzgitterbrett. Aber es war eine andere Angst, es war die Angst eines fragenden Kindes, das keine Antworten bekam. Heute bekommst Du zu viele.

 

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„Zuugfääähtabbbb“ am Hipstersquare

Es beginnt schon morgens im Bus: Du steigst ein, schwitzende Menschen mit dicken Jacken drängen sich im Durchgang, alle Plätze sind besetzt. Alle – bis auf den links neben der alten, tollkühn frisierten und undezent parfümierten Frau, die direkt am Gang Platz genommen und auf den Fensterplatz sorgfältig Tasche und Pelzmantel drapiert hat, um ihren Besitzanspruch auf beide Plätze zu legitimieren. Ich fühle mich gleich angesprochen und stelle mich demonstrativ vor die Gute, Ihren Blick in meinen Augen. Als nach gefühlten 5 Minuten noch kein Blickkontakt herzustellen ist, gehe ich zum Angriff über und frage höflich, ob der Platz neben ihr noch frei sei. Statt einer Antwort wird die Garderobe  – begleitet von einem tiefen Stoßseufzer – mürrisch auf den werten Schoß geräumt, und ich darf mich gnädigerweise, offenbar nur ausnahmsweise, setzen. Austeigen, umsteigen, U-Bahn. Gedränge am Schottenring, die U4 lässt auf sich warten und mit jeder Sekunde füllt sich der Bahnsteig mehr. Gerade in dem Moment, als der Bahnsteig vor Überbevölkerung zu implodieren scheint, schiebt sich die überfüllte U-Bahn donnernd heran und erlaubt nicht einmal einem Drittel der Reisewilligen den Zutritt. Ich schaffe es gerade noch vor dem hingerotzten „Zuugfääähtabbbb“ ins Wageninnere und spüre, wie die automatische Tür an meinem Mantel vorbeischrammt. Zwischen zwei Achseln klingelt plötzlich lautstark Mozarts Kleine Nachtmusik und ein Mann mit eleganter Hornbrille, dunkelblauem Kaschmirmantel und beigefarbenem Burburry-Schal schmettert ein lautstarkes „Servas, Franzi …. wos? I bin in der Bahn, I versteh di so schlecht … sog amal, hast mit dem Harald schon g’sprochen? Wegen dem Scouting … na du waßt scho …. jo, genau. Ich lass des imma alles abnicken, wenn wir ne höhere Marge hoben … ja eh … dann geh ich direkt zum Oliver und hol mir ne neue P.A. … Jo, klar … Letztens war ich erst beim Sales Director vom Konzern im Büro .. son richtig chices Loft mit super Ausblick. Hob i ihm gleich g’sagt. Sogt er: ‚Jetzt ist Herbst. Musste mal im Frühling kommen, wenn sich die Karnickel paaren – da hast an super Asublick!‘ hahaha, guat, oder? … sag amol, wer macht bei euch eigentlich die Business Integration?“ Bevor der Herr seine Achselnachbarn mit der ausstehenden Antwort beglücken kann, hält die U-Bahn und mindestens die Hälfte der genötigten Zuhörerschaft steigt aus. Ob der Mann das Gespräch zu Ende geführt hat – man weiß es nicht.

Jetzt aber erstmal los zur Besprechung. Granittreppe hochgerannt, Glastür aufgestoßen – da sitzen sie, die Wappler. Asymmetrische Neo-Eighties-Frisen, trendy Nerdbrillen, silberne Mac Books. Mir wird spontan übel und in Übersprungshandlung kippe ich mir ein stilles Wasser ins windschiefe Glas. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, die Bobos. Diese selbst(verliebt)ernannten Kreativen, die ihre Mitmenschen schon mit ihrer simplen Präsenz nerven. Diese Trotteln mit wissendem Kennerblick und legerer Ernsthaftigkeit. DAS ist nämlich ganz wichtig: ernst ist cool. Da fällt mir das Konzert vor zwei Wochen im Schaupielhaus ein. Geklonte Bobos, soweit das Auge reicht. Hornbrillendichte 88 %, Seitenscheitelquote 93 %. Uniforme Masse aus ImageIndividuen. Mitsingen? Nur innerlich. Tanzen? Geh bitte, das kommt nicht so lässig. Lachen? Fehlanzeige. Wir lachten und wurden mit bösen Blicken bestraft, bis uns dasselbe fast verging. Präpotente Unsympathen. Glauben, wer zu sein, weil sie jemanden nachäffen, von dem sie glauben, er sei wer. Persönlichkeit? Gekauft. Ein Ich? Logo, aber nicht nur eins. Ichs, soweit das Auge reicht. Allerdings nur Ich-du-er-sie-es-Ichs, alle austauschbar, situationselastisch quasi. Pronomen ohne Personal, dessen Sein nur in der Definition von Soll und Haben existiert. Mein iPhone. Mein Kindle. Mein Kind. Und damit die kleinen Paulas und Eliasse den latent teuren Geschmack der gutbürgerlichen Eltern auf die noch verschlossenen Augen gedrückt bekommen, werden sie im stylischen 70er-Jahre-Retrokinderwagen stilsicher durchs Hipsterquartier geschoben, wo sie dann im kinderfreundlichen Bio-Lokal zwischen blanker Mutterbrust und Soja-Chai-Latte so richtig schön antiautoritär auf die Kacke hauen können. Da wird geschrieen, gerannt, gerempelt und aufs neuseeländische BioSchafwollsackerl gekotzt was das Zeug hält, ganz ohne Rücksicht auf zwischenmenschliche Verluste derer, die ohne Kind mal in Ruhe ihren Kaffee genießen wollen. Sollen sie doch woanders hingehen! Wo wir sind, ist schließlich vorne! Urlässig einfach. Und so politisch korrekt. Alles bio natürlich, Klamotten vom Recycle-Designer um die Ecke, Naturkosmetik aus der homöopathischen Jugendstilapotheke im 6. – wer hat, der hat. Schade eigentlich, dass es ihr iPhone nicht bio gibt. Die 12-jährigen Kinder in der chinesischen iphoneFabrik hätten in ihrer un(ter)bezahlten 60-Stunden-7-Tage-Woche sicher auch was Besseres zu tun als giftige Metallstaubpartikel ohne Filter oder Gesichtsmasken zehn bis zwölf Stunden pro Tag einzuatmen. Darauf eine Kärntner Heu-Limo – hilft schließlich Kindern in Not.

© Lina

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VerschobeneZeitVerschiebung

Es wird Zeit, sich die Zeit einmal näher anzuschauen. Denn im heidnischen Hier der alten Welt wird devot gehorcht, wenn der ZeitZeiger zweimal im Jahr zum Stundensprung ansetzt. Im terrorchristlichen Dort der schönen neuen Superwelt wird übrigens schon mal tolldreist gelogen, damit Chronos seine rhythmischen Runden dreht und sich erst eine Woche später für das Stündchen mehr Schlaf entscheiden darf:

Happy Halloween!

Der Nacht der Lebenden Toten haben wir es nämlich zu verdanken, dass die Kinder der toten Lebenden als Sensenmänner und Knochenklapperer eine Stunde länger vor amerikanischen Türen hausieren. Hier hat man die 5 eine 4 sein lassen – und … einfach die Zeitverschiebung verschoben. Keine kosmetische Q10-Sauerstoff-3D-Recitin-Sculpture-Revitalift-Profutura-Skinlife-Anti-Gravity-Anti-Wrinkle-Anti-Falten-Créme, kein kosmisches Tantra-Yoga, keine geheime Raum-Zeit -Bügelmaschine im südlichen Nevada und noch nicht einmal der Allmächtige höchst persönlich hat möglich gemacht, was diese Interessengemeinschaft geschafft hat:

Ladies & Gentleman, we are proudly present the …..

….. S Ü SS W A R E N L O B B Y!

Mars Incorporated, General Mills und Co. haben nach fast 10 Jährigem Chrono-Kampf die Zeit besiegt. Nun gut, angesichts der erwarteten 1,57 Millarden US-Dollar Umsatz für süße Chemoscheiße made in USA darf sie das auch, prognostizieren fleißige StatistikStatisten dem durchschnittlichen Hausbesitzer am höllischen Nationalfeiertag Kosten in Höhe von durchschnittlich 19,84 US-Dollar für Kaugummi mit Zuckerwattegeschmack, neonbunte Erdnussbuttersmarties oder Gummikekse mit Blaubeerfüllung zum Selbertoasten. Natürlich geht man in Punkto Informationsvermittlung mit der Zeit und fabuliert – wie es sich für einen Zeitgenössischen Gutmenschen gehört – statt der Wahrheit politisch korrekter von umweltschonenden Energieeinsparungen in Millionenhöhe ob der läppischen einen Woche des eine Stunde späteren Lichteinschaltens.

Was ist also die Zeit, in der Minuten verkauft werden wie amerikanisches Mikrowellenpopkorn?

Man nehme allein die Phrasen und Plattitüden, mit denen sich die gute alte Zeit herumschlagen muss:

Alles hat seine Zeit. Die Zeit totschlagen. Den Nerv der Zeit treffen. Am Zahn der Zeit nagen. Mit der Zeit gehen. Die Zeichen der Zeit erkennen. Das Zeitliche segnen. Ein Kind der Zeit. Zeitlos schön. Ach du liebe Zeit! Kommt Zeit, kommt Rat. Saure-Gurken-Zeit. Die Zeit heilt alle Wunden. Zeit bringt Rosen, aber auch Dornen. Wer nicht kommt zur rechten Zeit …

… vergeudete Zeit.

Zeit. kann aber auch etwas ganz anderes sein, als es ist, etwas, zu dem es erst in der Semantik der freien Marktwirtschaft geworden ist – Geld. Wer das hat, ist nach Zeit.unkritischem Maßstab quasi am Puls der Zeit. – Lieblingsfloskel ethisch wie moralisch ausgehöhlter Werbeschaffender (im Branchenjargon kurz „Werber“ genannt) die dem fatalen Irrtum unterliegen, ganz vorne (in der Zeit.) zu sein. Ganz hinten, träfe es hierbei wohl eher, am besten aber „noch nie DABEI gewesen“. Und wenn, dann als unerwünschter, verständnislos dreinschauender Zaungast auf aus eigener Tasche finanzierten subkulturellen Kunstveranstaltungen, von deren Sinn der karrieristische Zehenspitzenspanner allenfalls eine 2-Bit-Vorstellung hat:

„Das da soll Kunst sein? Das kann ich auch!“

Um anschließend genau das genau so nach-zumachen. Indem das jüngst Gesehene von selbsternannten „Kreativen“ mit vielsagendem Kennerblick beim nächsten Brainstorming in der Creative Lounge der Agentur skrupellos als eigenes Gedankengut promotet wird. Gesagt, getan – und schon wird binnen kürzester Zeit die originäre Individualistenidee Zeit.nah zum medialen Massenprodukt verraten, über dessen Existenz die In-Out-Skala des nonstop manipulierten Zeit.geistes entscheidet. Bis zum nächsten Ideenklau für den nächsten Werbespot, in dem erklärtermaßen „Gefühle, keine Marken“ verkauft werden.

Derart kunstverständnislosen Seelenverkäufern haben wir dann auch sinnbefreite Neologismen temporärer Natur wie das zitierte Zeit.nah,

aber gerne auch

asap, Zeit.kritisch oder

am besten schon gestern

zu verdanken – allesamt Vokabeln, entstanden aus Artikulationsmängeln profitfokkussierter Project Manager, die – der deutschen Sprache machtlos, der Verkaufsbilanz hörig – zwangsarbeitende Ex-Künstler zu immer neuen, immer unrealistischeren Höchstleistungen aufpeitschen müssen. Wohlgemerkt MÜSSEN, denn diese Audi-TT-fahrenden, golfspielenden und gepflegte Lounge-Mukke (ganz schön ausgeflippt, diese Kreativen!) hörenden After-Work-Spießer sind auch nur mikroskopische Rädchen im makroskopischen Getriebe der KriminellKommerziellen Großmaschinerie.

Vielleicht sollte man den Verantwortlichen des tiefenpsychologischen Kunsumwahnsinns einfach mal eine Zeitbombe in den chicen Meeting Room des zum LOFT diskreditierten ehemaligen GründerZeit-Fabrikgebäudes legen, deren sinnfreies Anglizismen-Gequatsche wie House-Music in den bildungsfernen Gehörgängen potenziell unkreativer Marketing Manager klingt? Nur, wahrscheinlich haben die persönlichkeitsbefreiten Werbeterroristen mit so beeindruckenden Titeln wie Creative-Director oder Senior Design Consultant ein so enges Zeitkorsett, dass die Bombe ausgerechnet dann hochgeht, während die schwarz gekleideten Office-Blondinen gehirngewaschen-dauergrinsend den Collani-Tisch schon für das nächste Kick-Off-Meeting mit eckigen Allessi-Tassen dekorieren. Schlechtes Timing. Dann doch lieber zu gänzlich unchristlicher Zeit die Lunte zünden.

Ähm ……. „Unchristliche Zeit“? Was soll DAS eigentlich sein? Sind demzufolge alle Nachtaktiven und Frühaufsteher Atheisten? Was ist mit einer Nonne, die nachts nicht schlafen kann? Mutiert die Schlaflose dann quasi zu einer Art heidnischen Hohepriesterin, so eine achselbehaarte Yoga-Gender-Tussi, die Steine lutschend mit verklärtem Blick in Trance und lilafarbenen Samtroben ums Walpurgisfeuer tanzt?

Und: Wann genau beginnt denn eigentlich das Unchristlich-sein?

Heute um 0:00 Uhr (beziehungsweise: eine Stunde später bei den Amis, denn schließlich ist ja noch nicht Halloween)?

Oder doch eher ab 3:00 Uhr, wenn im Fernsehen die Wichs-Filme im „Vierten“ laufen und domestizierte Ex-Nutten Automarken mit „A“ suchen? Alles wohl zu seiner Zeit .

Dabei ist Zeit doch relativ!

Sitzt du zum Beispiel in der überfüllten überhitzten Straßenbahn und versuchst, dich durch die beschlagenen Scheiben hindurch von der hoffentlich schnell schwindenden Distanz nach Hause zu überzeugen –

hinter dir niesende Rentner vor dir kichernde Teenys auf der einen Seite streng riechende Männer auf der anderen Seite synthetische Duftwasser über dir verwirrt blinkende Lichter unter dir verirrt geworfene GratisZeitungen um dich herum ein wabernder Chor aus versatzverstückten Stimmfragmenten Kirmes-Tekkno durch viel zu große Kopfhörer Akkordeon-Klänge Kinderjammern Blickausweichen Händeschwitzen Stehenbleiben Ellenbogen Gegenlehnen viel zu laute Handyschreie viel zu schrille Jamba-Töne

dehnt sich die Zeit wie ein endloser Kaugummi.

liegst du dagegen

einfach da,

mit ihm,

ihr,

die entspannten Gliedmaßen daunenweich

in Federn versunken

in der Rechten: Zigarette,

in der Linken: Whiskey, vor euch

flimmernde Bilder – vergessen

von euren umeinander tanzenden

Gedanken, die

zusammenfinden,

auseinandertoben,

ineinanderweben,

Spiralen drehend durch die Lüfte wirbeln,

Mauern durchdringen

nach fernen Ländern klingen,

um Metropolenhäuser ziehen

über weite Ährenfelder fliehen,

vor freien Geisteskünstlern niederknien,

in ihnen Parallelgedanken wiedersehen –

dann, immer dann,

wird Zeit von Zeit dahingerafft

Nicht so in der FastenZeit. Hierbei verzichten ­ausschließlich Ausgeschlafene (die anderen sind ja Atheisten) auf die allzu ausschweifende Aufnahme von Nahrungsmitteln, um ihr tiefrot überzogenes Sündenkonto auf grün zu hungern. Fremdgehen, gutmütige Rentner am Telefon bescheißen oder gelangweilten Hausfrauen im Fernsehen osteuropäische Plastikkleider für südeuropäische Luxusfummel verkaufen – einfach nix essen, und schon hat man einen fetten Sündendispo ohne Überziehungszinsen für das ganze darauffolgende Jahr!

Wobei ……. ging das in grauer VorZeit nicht noch schneller?

…………………………… natürlich – der AblaSSbrief!

Warum nicht das wohlfeile PapstPapier zur Pauschalleuterung revitalisieren und Zeitgemäß vermarkten? Wo es den Papst doch sogar für nur 0,79 Cent per SMS direkt aufs Handy gibt! Einmal zahlen – ein Jahr lügen! Oder für die junge Zielgruppe von den zitierten Werbern stylisch verclaimt: Pay once – lie twice! Das wäre doch eine effiziente Geschäftsidee für alle Scheinheiligen, die gerne fressen und vögeln, doch bei Nachbarn und Kollegen den Christen geben! Der fromme Freibrief für frivole Genießer! Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt, so das entlarvende Postulat eines mittelalterlichen Dominikanermönches, das im heutigen Mittelmaßalter überZeitliche Gültigkeit beweist, bevor einen das Zeitliche segnet.

Was daran segensreich sein soll, – man weiß es nicht.

Doch bevor ich gedenke das herauszufinden, mache ich mich auf die Suche nach der verlorenen Zeit und träume von Zeiten, in denen lautstarke Zeitzeugen auf der Höhe der Zeit ihre Zeitkritischen Texte unZeitgemäß konzipierten. In einer Zeit, in der die Zeit noch ihre Kunst und die Kunst noch ihre Freiheit hat.

Zeit der Kirschen

Zeit zu gehen.

© Lina

 

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Die Lesung

Schnell noch ein Bier.

Besser nicht. Oder …. vielleicht doch.
Stattdessen stilles Wasser für alle.
Zigarette her!
Rauchen verboten.
Dann noch eine!

Hände feucht. Zitternde Mundwinkel. Schweiß. 
Sieht man nicht, besser so. Wahrscheinlich eh verboten.
Wo bin ich eigentlich? Nicht drin, irgendwie draußen, ein bisschen drüber, drunter, daneben, jedenfalls nicht hier, in irgendsonem Literaturspießerhaus mit graugesichtigen Germanistenbräuten, 
desperate Housewifes der Literatur, die nur im Keller lachen, wenn sie lachen.
So Gouvernantentanten mit Rollkragenpulli und Sehhilfen aus Horn unter den Hörnern.
So Katholikenschnepfen mit Kontrollsyndrom und Korrektheitsfetisch.
Wo alles verboten, weil Vorboten der Hölle, diese Kerzen, die nicht brennen, diese brandgefährlichen Lampen aus Papier und potenziellen Kabeltrommelbomben ausgeflippter WorTerroristen. 
Was können die schon, wer sind die überhaupt, diese Namenlosen!

Alkohol erst nach der Veranstaltung.
Natürlich Wein, rot und weiß, so einer mit samtenem Abgang und grindigem Zungenpelz. Zum gepflegtgelangweilten Schlürfen mit humorlosem Kennergequatsche passt das am besten.

Auf der Bühne ein trostloser Tisch mit fadem Sessel aus Draht, silber schwarz, Hintergrund weiß, schön neutral. Überhaupt schön sauber hier, alles korrekt, geleckt, alles an seinem Platz, 
akribisch drapiert, pedantisch kontrolliert.
Erstmal weg mit dem ganzen Scheiß! 
Runter von der Bühne und rauf mit den Sofas!
Her mit den bunten Bildern vom Kölner Künstler der dieses Attribut zu Recht verdient! 
Her mit den ollen Kissen und technischen WortVerstärkern! 
Weg mit der verzweifelten Literaturbeamtin – und her mit dem Bier!
Tschick an, Sound ab, fuck you, Tante Bilbo!
Drei Minuten, zwei Minuten. Los geht’s. 
Wortsalat im Kopf. Mund spricht, ohne Kopf. 
Es trocknet aus das Farbenmeer
Kopf weg. Muss ihn suchen, einfangen, dressieren, die störrische Wildsau.
Denn es sind Menschen da, die wollen 
Hören. Sehen. Ausatmen, ich einatme, einsilbig, einarmig, mit dem 
Mikro in der Hand im Jetzt, das sich nach gestern und morgen anfühlt.
Kopf noch nicht gefunden. Rotiere herum im Innenraum, 
Gang 235 Tür 3: zu. Gang 236 Tür 5: zu. Gang 237 Tür 71: offen, kein Kopf.
Ach Scheiß drauf, der kommt schon wieder. 
Alles bunt, still, laut, grau, schwarz, leer, im Wurmloch ohne Zahn und Zeit.
Auf einmal blau. Vielleicht vom Bier. Ach ne, gab ja nur Wasser
Zäher Argusalgen Teer
Satzfetzen hetzen zerfetzen 
Gegenwartsätze
Schätze, vielleicht. 
Krakenklone auf und abtentakelt untergehn
Schrott, bestimmt.
Was weiß denn ich. 
Was wissen die? 
GermanisMussGollum im Spießerstrick weiß nix.
Eigentlich auch egal. 
Die wollen eh nur hören, sitzen, sehen, reden,
bewerten, verwerten, kritisieren, zensieren.
Buhen, toben, lachen, lästern, spotten, verrotten, diffamieren, abservieren, 
– Kopflose Phantomgedanken ranken tief ins leuchtendgrelle Wattegrau.

Schweigen, alles dunkel. 

>> LICHT AUS! SPOT AN! <<
Komm her, scheiß Kopf du! 

Mund übernimmt. Schießt Satzssalven im Zeitraffer durch den Raum. 
Worte purzeln über Unterkieferrundungen mit Lippenstift.
Korrallenkonjunktive quallen auf
Wattevokabelstrudel im Dämmerlicht
Die Silberfische strudelschwimmend
Mundwinkel zittern, böses Gesicht, wahrscheinlich.
Was denken die? Arrogante Kuh, bestimmt.
Wenn die wüssten was sie glauben zu wissen was ich weiß. 
Dabei weiß ich nix zu wissen.
Hände zappeln, Buch wackelt.
[Kerzen verboten]
[Alk erst nach der Lesung]
[gefährliche Papierlampen]
Germanistentrauma
[scheiß Spießerbraut] 
[scheiß Gedächtnisschwund]
Konzentration, bitte!

Mund unbeeindruckt. Beine auf Sofa auch. Hände nicht. Mundwinkel auch nicht.
Kopfhülle im Profil, ist sicherer. 
Sound läuft, Mund über. 
Mikro zittert. 
Saal voll. 
Menschen da.
ENDLICH MENSCHEN!
Menschen die hören, sitzen, sehen, denken, verstehen, abstrahieren, kapieren,
probieren, studieren, nicht sieben, einfach lieben, junggeblieben, angetrieben vom Übriggeblieben
in der Horde ahnungsloser Mittelmaßopportunisten.

Kopf-fade-in. 
Wieder da, im Jetzt. Kein Morgen, Gestern.
Nur hier, Echtzeit. 
Musik-fade-out.
Danke gehaucht, zitternde Beine, klatschende Hände im tonlosen Daunennebel. 

Raus, nur raus. Tschick an, Bier her! Aus Dosen, mitgebracht. Kein Wein.
Worte wechseln Nichtbesitzer.
Alles leicht, alles klar.

Tante Bilbo raucht im Kabuff.
Freestyle auf Bühne. 
Bühne raucht. 
Tante auch, vor Wut.
Das Spiel ist aus, der Ofen auch.
Kerzen verboten.
Hier bestimme immer noch ich!

Frau Biedermann entlässt die Brandstifter im Zorn.
Wunderbarer Abend.

 

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