Es ist kalt, nass und grau an diesem Dezembertag. Durch überdekorierte Strassen treiben namenlose Zeitgenossen, eingepackt in dicke Schals und Echtfellpudelmützen, den Blick konzentriert nach unten auf den Monitor des neuesten Smartphones gerichtet. Alles blinkt und schimmert, lasiert die Gedanken. Wie Statisten in einem überdimensionierten Weihnachtswerbespot schlängeln sich die Massen durchs austauschbare Winterwunderland. Es riecht nach Glühwein, Zimt und Stress. Am Schwedenplatz halte ich inne, wartend, frierend, allein. Ich ärgere mich, wieder einmal der Temperatur nicht gerecht gekleidet zu sein. Zu wenig Wollanteil im Mantel, zu wenig Leder am Schuh. Jingle bells, jingle bells, jingle all the way. Ich zittere, chic eingepackt, aber mit erstarrten Zehen. Worauf warte ich? I’m dreaming of a white christmas. Mir wird schlecht. Alles dreht, alles vergeht. Im Kaffeehaus ist es warm und überfüllt. Ich finde einen freien Platz am Tisch neben der Küche und bestelle ein Bier. Wie immer, wenn ich alleine ein Lokal betrete und kein Buch zur Hand habe, sucht mein Blick ein Zuhause, um nicht verloren zu wirken. Früher griff ich in solchen Situationen zur Zigarette. Heute lese ich das Horoskop auf dem Zuckerbeutel, ist eh gesünder. Studiere die Speisekarte zum dritten Mal. Gehe schließlich zum Zeitungstisch und fische nach dem einzigen halbwegs seriösen Politmagazin des Landes. Gelangweilt blättere ich durch die schreienden Seiten mit den knallig negativen Überschriften. Krieg, Krankheit, Katastrophen, die drei K‘s der Neuzeit. Als ob es ein Verbrechen wäre, über etwas Schönes zu berichten.
Der ältere Herr am Nebentisch liest die Zeitung, hinter der in unregelmäßigen, rhythmischen Abständen der Qualm eines Zigarillos aufsteigt. An der rechten Hand fehlt dem Herrn ein Finger, wie mir auffällt, als ich versuche, die Überschrift eines Einspalters seiner Tageszeitung zu entziffern. Seine Schuhe sind kalbsledern und rahmengenäht, der weinrote Pullover aus Kaschmir, der Ehering breit und golden – wohl doch kein Arbeitsunfall, der verlorene Finger. Als er grimmig zu mir rüberschaut, flieht mein Blick nach links, direkt in die durchsichtigen Augen einer dünnen jungen Frau. Die Augen einer Verlassenen. Die Frau im teuren Hosenanzug schaut ins Nichts, das friseurfrisierte blonde Haar adrett ihr gemeißeltes Gesicht umrahmend, aus dem Verzweiflung spricht. Klimawandel, Terror, Geiselnahmen, Konsumrausch – wann wird aus meinem Gesicht die Verzweiflung sprechen? Am Fenstertisch redet eine Mutter auf ihre beiden Kinder ein, 5 und 8. Der kleine Jonathan bemalt den Tisch mit Edding, während die kleine Sophie die Servietten zerreißt. Mummy ist das Wurscht, schließlich sollen die beiden Hochbegabten als erfolgreiche Individualisten Karriere machen. Mein Magen verkrampft sich. Satzfetzen, Kaffeemaschine und Kellnerschmäh verkleben zu einem akustischen Einheitsbrei, meine Augen beginnen zu brennen. Zwei Tische weiter unterhalten sich zwei Maturanten. Der eine mit rotblonden Struwelpeterhaaren, verblasstem Kapuzenpulli und schelmischem Augenpaar, der andere mit Undercut, Segelschuhen und Collegeblazer. Netzwerksessions versus Tanzschule. Rucksackurlaub in Asien versus Segeltörn in der Karibik. Kiffen versus Komasaufen.
Doch irgendwie versteht man sich, man redet miteinander. Ich meine echtes, gehaltvolles Reden, nicht den bloßen Austausch sinnentleerter Phrasen. Warum interessieren sich nur so wenige Menschen für andere? Geistige Anteilnahme im ethymologischen Sinne? Wohlwissend, entweder keine oder zuviele Antworten auf meine rhetorische Frage zu bekommen, bestelle ich noch ein Bier. Bereits nach dem zweiten Schluck spüre ich diese teenagerhafte Unbefangenheit in mir aufsteigen. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Gelassenheit dehnt sich in mir aus wie ein abgekühlter Stern. Ich schwebe im samtigen Dunkel aus unendlichem Schwarz. Die Welt um mich herum zerfällt nach und nach in ihre Atome. Erst meine Füße, dann meine Hände, fühlen sich warm und schwer an, eine allumfassende Wohligkeit breitet sich aus, fast daunige Schläfrigkeit wabert durch meinen gesamten Körper, bis mich ein spürbar bohrender Blick in die Alltagsrealität zurückwirft. Ich drehe mich in die gefühlte Richtung und pralle gegen die giftig starrenden Augen einer würdelos alternden Frau mit runtergezogenen Mundwinkeln. Hab ich mir das Kleid vollgekleckert? Hab ich die Frau vorhin versehentlich angerempelt? Oder ist es schlicht mein Dasein, das die andere in ihrer missgünstigen Selbstgefälligkeit stört? Warum interessiert es mich überhaupt, ob irgendeine verbitterte Furie ihren Frust an andere heften will? Ich weiß es nicht – nur, dass sich meine anerzogene Höflichkeit in solchen Situationen als Fluch entpuppt, denn statt eines kecken „Is was?“ schaue ich verschämt in die entgegengesetzte Richtung. Eine schlechte Wahl, denn aus eben jener grinst just in diesem Moment ein dicker Mitfünziger mit Silberblick schmierig in meine. Mir wird das hier alles zuviel, ich zahle und gehe.
Draußen tobt der vorfesttägliche Wahnsinn, als gäbe es kein Morgen. Es wird gedrängelt, gedrückt, zur Seite gestoßen, geschimpft. Auf dem Weg zur Bahn nehme ich intuitiv einen Weg, den ich noch nie zuvor gegangen bin. Plötzlich stehe ich vor einem großen Fenster, das eine vergilbte uralte Gardine vor zugereisten Blicken ins Innere schützt. Daneben ist eine alte Tür als gebogenem Glas, dahinter ein Windfang aus dunkelgrünem Filz. Ein kleines Lokal, so einladend ein Lokal nur sein kann. Keine Werbung, keine Beleuchtung, kein Image. Ich trete ein. Die Rauchwaben trüben den Blick in den Raum wie die nikotingetränkten Gardinen das Fenster. In dem kleinen Gastraum mit den verblassten Fotografien und den seltsamen Spielkarten an der Decke stehen nur vier dunkle Holztische. Fast jeder Platz ist besetzt von Herren und Damen älteren Jahrgangs, die freundlich in meine Richtung schauen und mir bedeuten, Platz zu nehmen. Ich setze mich an den Bistrotisch neben dem Ausgang, zücke mein Notizbuch und bestelle ein Bier. Einer der Herren dreht sich zu mir um und prostet mir unaufdringlich zu. Er stellt sich namentlich vor, ich lächele, und nach einer Weile stellt sich jeder jedem vor und mit einem Mal unterhalten wir uns, mehr noch – wir reden, reden über Rühm, Bayer, die Wiener Gruppe, Jandl, Achleitner, über die Stadt im Allgemeinen und das, was ihren Reiz ausmacht, im Speziellen, bis die semantischen Wogen sachte verebben und wieder zu einer wohlig schaukelnden Fläche werden. Und auf einmal schreibe ich das erste Wort, die erste Zeile eines Gedichtes, die fast spielerisch zu Papier wird. Die Damen beobachten mich wohlwollend. Keine Spur von Missbehagen und Niedertracht in ihren klugen Augen, nur Spuren von gelebtem und gelerntem Leben um ihre lächelnden Münder. Ich fühle mich wohl, als Mensch unter Menschen.