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Das semiotische Dreieck

In einem Kaffeehaus. Jeder Tisch ist besetzt. Die kunterbunt gemischten Gäste trinken, rauchen, essen, reden. Es herrscht eine entspannte, lebensfreundliche Atmosphäre. An einem gemütlichen Fenstertisch im Raucherraum wartet Astrid bereits auf Elisa. Eigentlich waren sie für 15 Uhr verabredet, doch jetzt ist es bereits 15 Uhr 20. Astrid wird zunehmend nervöser, zündet sich eine weitere Zigarette an und beobachtet angespannt, wie proportional mit jedem tief inhalierten Zug ihr Stimmungsbarometer sinkt. Da, endlich, betritt Elisa das Café.

Elisaaaa, heyyy, da bist du ja! Komm, lass dich drücken. Schön, dich zu sehen!

Bussi rechts, Bussi links. Astrid strahlt, Elisa leuchtet.

Heyyyyy, Astrid! Du, sorry, ich hab mich mit Max verquatscht, du weißt schon, der Typ aus der Galerie …

Ach, gar kein Problem! Ich sitz‘ doch gut hier. Hauptsache, du bist da!

Typisch Elisa, immer muss man auf sie warten. Das müsste ich mal bei ihr machen …

Die beiden Freundinnen setzen sich.

Und, Liebes? Was sollen wir trinken: Prosecco?

Jetzt schon?! Bissl früh, oder? —- Ach … hast Recht. HERR OBER, ZWEI PROSECCO, BITTE!

Vorgestern kam Elisa wieder mal zum abendlichen Yogakurs zu spät. Alle mussten nochmal neu anfangen, nur wegen ihr!

Astrid, ich hab‘ super Neuigkeiten!

Wer bin ich eigentlich, dass ich mir das gefallen lasse?

Du bist schwanger!

Quatsch, nein – ICH HAB DEN JOB!

Astrid schluckt. Sie muss an ihr eigenes Bewerbungsdesaster denken. Fünfzig Bewerbungen, Null Zusagen. Sie ringt um Fassung, jetzt bloß nicht das Gesicht verlieren, bitte recht freundlich.

Wow, Elisa, das ist ja toll! Gratuliere, ich freu mich ja so für dich!

Sie hat den Job, war ja klar. Dabei habe ich mir extra einen Coach geleistet, Interviewtrainings gemacht, meinen Lebenslauf gepimpt.

Wahnsinn, oder? Nach nur einer Bewerbung … ich bin sprachlos.

Und Elisa? Schreibt eine einzige Bewerbung und es klappt. Kein Wunder – sieht gut aus, hat ´nen coolen Freund und ´nen reichen Papa.

Hätte ich nie nie Nie NIEMALS gedacht. Zumal sich dort – das hat mir Vanessa gesteckt – wohl Hunderte beworben haben.

Na  d a s  Vorstellungsgespräch hätte ich gerne gesehen. Wahrscheinlich hat sie sich aufgebrezelt und dem Chef – Klimper, Klimper! – schöne Augen gemacht. Könnte ich nicht, sowas. Aber offenbar kommt man damit durch. Warum meint es das Leben nicht auch einmal gut mit mir?

Jetzt muss es endlich auch bei dir klappen, dann bin ich vollends happy! Komm, lass uns anstoßen. Auf den neuen Job, auf das Leben!

Wie bitte? „Endlich auch bei dir klappen“? Soll das etwa heißen, ich bin ein Looser?!

Na dann Prost, Elisa. Auf deinen neuen Job!

Als ob ich nichts zu bieten hätte! Ist denn ein Bachelor in Psychologie nichts? Plus einem Auslandsemester in Florenz und zwei Praktika!

Jetzt sag schon, Astrid – wie läuft‘s bei dir? Hast du dich schon bei Thomas gemeldet? Du weißt schon, der Typ aus der Werbeagentur, die eine Sachbearbeiterin sucht.

Elisa, ich glaube, dass ich als Sachbearbeiterin etwas überqualifiziert wäre.

Ach, ist doch nur ein Sprungbrett. Der berühmte Fuß in der Tür.

Die Frau Magister hat gut reden …

Aber ich habe doch auch ein Studium vorzuweisen!

Ja, aber… na ja, was soll ich sagen … mit einem Bachelor ist es halt ein bisschen schwerer. Aber – so what! Es braucht nicht jeder einen Magister.

Nicht jeder?! Bin ich etwa Krethi und Plethi? Wenn ich ehrlich zu mir bin, ärgert es mich natürlich schon, dass ich nicht noch die zwei Jahre Studium drangehängt habe. Immerhin war da dieser gut bezahlte Nebenjob, der hätte mir das Master-Studium locker finanziert. Stattdessen bin ich sechs Monate durch Südostasien gereist, danach noch eine Zeit lang durch Australien und Südafrika. Tja, wenigstens habe  i c h  die Welt gesehen!

Ach, ich habe einfach nur Glück gehabt. Es gibt so viele Leute, die auch ohne Titel Karriere machen!

Und warum hast du dann einen?

Einmal angefangen, wollte ich das Studium auch zu Ende machen. Halbe Sachen liegen mir nicht.

Schweigen. Eisiges Schweigen. Der Prosecco beginnt im Glas zu gefrieren.

HERR OBER, NOCH ZWEI PROSECCO, BITTE!

Astrid schaut Elisa verstohlen von der Seite an: Sie sieht heute gar nicht gut aus. Augenringe, Pickelchen, und dazu noch etwas aufgedunsen. Typische Abendschönheit.

Gut schaust heute aus, Elisa!

Überhaupt kommt ihr Gesicht so langsam in die Jahre. Komisch, ist mir vorher noch nie so aufgefallen, aber bei Tageslicht sieht man schon deutliche Knitterfältchen und auch ihre einst prallen Bäckchen beugen sich bereitwillig der Schwerkraft. Man bleibt eben nicht ewig jung und schön. Kann sie mal sehen, wie das ist.

Oh, Danke! Du aber auch, Astrid! Schickes Kleid, genau deine Farbe.

Hallo? Höre ich da einen sarkastischen Unterton?

Was? Nein! Ich mein’s ernst!

Ja klar. Wenn man das schon dazusagen muss, ist es mit der Ernsthaftigkeit bekanntlich nicht weit her.

Willst du etwa damit sagen, dass ich dich anlüge?

Das habe ich nicht gesagt.

Man muss nicht immer sagen, was man meint.

Woher willst du wissen, was ich gemeint habe? Kannst du Hellsehen?

Die Klamotten waren auch schon mal besser kombiniert. Immerhin, sie hat die Haare schön.

Ich kenn dich halt schon lange.

Offenbar nicht lang genug, denn so hab ich das sicher nicht gemeint.

Da! „Sicher nicht“ – schon wieder betonst du die Glaubwürdigkeit deiner Aussage!

Ja und? [Pause] Kann das sein, dass du heute a bissl streitsüchtig bist, Astrid?

Wie kommst du denn darauf? Ich war doch die ganze Zeit gut drauf! Jetzt allerdings nicht mehr.

Und das ist jetzt meine Schuld?

Nein, überhaupt nicht, gar nicht! Aber man wird doch wohl noch seine Meinung kritisch äußern dürfen!

Dann bist du heute aber ganz schön kritisch. Hand aufs Herz: Hast du wieder eine Job-Absage bekommen oder was ist los?

„Wieder“? Weil mich ja eh keiner nimmt?

Astrid. Das hab ich doch nicht gesagt!

Aber gedacht.

Woher willst du das wissen, was ich gedacht habe? Kannst du Hellsehen?

Elisa bebt innerlich. Wie der erste Sonnenaufgang in einem unbekannten Land dämmert in ihr eine Erkenntnis, die alles bisher zusammen Erlebte in ein beklemmendes, monochromes Licht taucht. ‚Wie eine Blinde, die auf einmal sehen kann‘, schießt es ihr in den Kopf. Aus dem Ozean gemeinsamer Erinnerungen drängt plötzlich ein Abend vor sechs Jahren an die Oberfläche ihres Bewusstseins. In diesem Stillleben der Vergangenheit sieht sie sich mit Astrid am runden Holztisch in der Küche ihrer damaligen Wohnung sitzen, bei einem Glas Rotwein, Jazz und vielen Zigaretten. Sie kennen sich erst seit einem Jahr, doch für Elisa fühlt es sich nach ‚schon immer‘ an, so vertraut ist ihr Astrid.

Nach dem zweiten Glas fasst sich Elisa ein Herz und erzählt Astrid zum ersten Mal von ihren Problemen mit dem Professor, dessen Assistentin sie einst war. Es war ihr allererster Job. Anfangs war sie so glücklich, trotz ihres Orchideenfachs und allen Unkenrufen kapitalgesteuerter Einzelkämpfer zum Trotz diese Stelle bekommen zu haben. Doch irgendwann wuchsen aus den vielen kleinen Sticheleien ungerechtfertigte Vorwürfe, was schließlich in peinlichen Anspielungen auf ihre weiblichen Attribute gipfelte und jeden neuen Arbeitstag zu einem neuen Angsttag werden ließen. Elisa erzählte also zum ersten Mal in ihrem Leben einem anderen Menschen von all ihren erlittenen Demütigungen, Respektlosig- und Anzüglichkeiten, wie sehr sie darunter leide und wie wenig sie damit umzugehen wisse. Sogar von den gesundheitlichen Folgen und deren strapaziöser Bewältigung. Wie aus einer geschüttelten Sektflasche sprudelten die Worte aus Elisa heraus und jedes endlich laut ausgesprochene Wort fühlte sich so wohltuend und heilsam an wie ein sauberes Heftplaster auf einer frischen Schnittwunde. Und was tat Astrid?

HERR OBER, EINEN MARILLENSCHNAPS, BITTE! Willst du auch einen?

Nein Danke, ich bin ja generell nicht so für Alkohol.

Aber für Prosecco?

Das ist nicht das Gleiche. Schnaps ist nicht meine Liga.

Und bin ich außerhalb deiner Liga, wenn ICH einen trinke?

Schweigen. Der Schnaps kommt. Er wird hektisch geext.

Astrid, du … ach … ich sag besser  nichts mehr, es wird ja sowieso alles gegen mich verwendet.

Ja, genau. Ich bin nur auf Streit aus und verdrehe dir immer jedes Wort im Munde.

Damals in der Küche sagte Astrid jedenfalls – nichts. Kein einziges Wort. Kein Tröstendes des Bedauerns, kein Wärmendes der Unterstützung. Keine Empathie, keine Spur des Mitfühlens, und wahrscheinlich auch nicht des Zuhörens (schon damals beschlich mich das Gefühl, mit meinen Ausführungen Astrids Geduld zu strapazieren: Zu oft irrte ihr Blick durch den Raum, zu oft schielten ihre Augen aufs Handy – natürlich nicht ohne sich gleich dafür zu entschuldigen). Als meine Erzählung endete, ergriff Astrid das Wort. Doch statt der inständig herbeigesehnten Leides-Teilung reklamierte Astrid das Attribut der Alleinleidenden für sich, indem sie eklektisch ihre eigenen, schlimmen Erfahrungen aufzählte. Wie dramatisch ihre Situation war, welche Opfer sie bringen musste, und wie froh sie war, von so guten Freunden aufgefangen worden zu sein. Sie erzählte und erzählte und erzählte nur von sich, sodass mein jüngst widerfahrenes, frisches Leid zur Gänze in ihrem längst Durchlebten aufging. Am Ende des Abends musste ich  s i e  trösten, obwohl ich selbst des Trostes bedurfte.

Damals vermutete ich noch Wortfindungsschwierigkeiten oder zwischenmenschliche Ungeschicktheit. Heute vermute ich mangelndes Selbstwertgefühl, das sich in Missgunst entlädt. Soll es den anderen doch auch mal schlecht gehen, nicht nur mir! Aber ich kann mich auch irren. Vielleicht bin ich heute einfach nur zu streng mit Astrid. Außerdem hasse ich Streit.

Weißt du was, Astrid? Wir zwei Hübschen sollen wir uns wieder mal was richtig Gutes gönnen. Lass uns doch shoppen gehen! Ein Friseurbesuch! Oder chic essen!

Oder vielleicht ein luxuriöses Wellnesswochenende in Dubai buchen? Holger hat schon Recht: Elisa ist ein verwöhntes Einzelkind.

Wäre schön, aber dazu fehlt mir im Moment das Geld.

Aber wer war ich dann die ganzen Jahre für Astrid – Seelentröster, Stilgeber, Kurzweiler? Freundin? Feindin? Der Boden unter meinen Füßen beginnt zu schwanken.

Ach, bitte, Astrid, ich lad‘ dich ein!

Als ob ich Elisas Almosen nötig hätte! Aber andererseits … sie hat ja genug Geld. Dazu der bestimmt gutbezahlte neue Job, der gutzahlende Papa, und ihr Typ verdient sicher auch nicht wenig. Überhaupt – ist Freundschaft denn nicht immer auch ein Geben und Nehmen? Und wenn der eine Freund weniger hat, warum sollte er nicht von dem nehmen, der mehr hat? Ist denn nicht gar Nehmen seliger als Geben?*

Ja, von mir aus. Können wir ja irgendwann mal machen.

Wieder Schweigen. Zigarette. Verlegenes Fingerkuppendurchzählen und sinnloses Haarlockendrehen.

Astrid, darf ich dich etwas fragen? Bitte verstehe mich jetzt nicht falsch, aber mir kommt es so vor, als ob ich da gerade bei dir auf eine Eisbergspitze gestoßen bin. Was willst du mir wirklich sagen? Heraus mit der Sprache – was ist los?

Es ist gar nichts, Elisa. Ich hab heute einfach nicht meinen besten Tag.

Betretenes Schweigen. Astrid kramt in ihrer Tasche. Elisa blickt aufs Handy, während sich auf ihrem Dekolletée rote Flecken bilden. In ihren Augen sammelt sich Flüssigkeit, die jeden Moment herauszuschwappen droht.

Ich dachte eigentlich, wir sind Freundinnen! Und gehört nicht zu den wesentlichen Eigenschaften einer Freundschaft, dass man einander Wohlwollen entgegenbringt?

Du glaubst, ich sei nicht wohlwollend?

Ja, das glaube ich.

Und woran machst du das fest?

An deinen Reaktionen auf mich.

Welche Reaktionen genau?

Zum Beispiel auf meinen neuen Job. Für mich bedeutet das so viel, und das weißt du. Nach allem, was mir damals widerfahren ist. Du erinnerst dich?

Woran?!

Na an die Geschichte mit dem schmierigen Professor, dessen Assistentin ich war – weißt du das nicht mehr? Es war in der Küche in meiner alten Wohnung in der Taubstummengasse, als ich dir von seinem demütigenden Verhalten erzählte, von seinen fadenscheinigen Anspielungen und dreisten Anzüglichkeiten.

Welcher Professor? [Pause] Ach DAS … geh bitte, das ist doch so viele Jahre her.

Für mich ist es wie gestern, weil es um etwas Grundsätzliches geht: Empathie. Du hast mir damals keinerlei Mitgefühl entgegengebracht. Schlimmer noch, du hast überhaupt nicht reagiert, sondern einfach deine Geschichte drübergelegt.

Drübergelegt?! Wie hätte ich denn deiner Meinung nach reagieren sollen? Mitleiden? Mitweinen? Was hätte das denn geändert?

Na ja, nicht gerade Mitweinen … ein paar Worte des ehrlichen Bedauerns hätten es auch getan. Ich hatte damals jedenfalls nicht das Gefühl, dich mit meiner Geschichte zu berühren. Daher frage ich dich heute: Warum freust du dich nicht für mich, wenn ich mich freue, warum tröstest du mich nicht, wenn ich traurig bin? Und – warum stellst du mir eigentlich keine Fragen?

Aber ich freu mich doch für dich, Elisa! Du verstehst das alles völlig falsch. Und jetzt genug von alten Problemen, lass uns zwei jetzt endlich auf deinen neuen Job anstoßen!

HERR OBER, NOCH ZWEI PROSECCO, BITTE!

Es gäbe noch viel zu sagen und noch mehr zu fragen, aber das Ungesagte besitzt der Aussage genug. Was ist das für eine Freundin, die jedem meiner Worte auflauert wie ein hungriger Wolf dem Lamm? Die sich in der semantischen Kehrseite ihrer Ethymologie suhlt, um diese letzterdings als Lanze gegen mich zu verwenden? War das je Freundschaft? Oder ist das schon Feindschaft?

Die Luft hier wird dünner. Ich muss weg von diesem lebensfeindlichen Ort. Will atmen, reinen Sauerstoff inhalieren, nicht an verpesteter Luft ersticken. Besser einsam im Reinen als gemeinsam alleine!

Nein, danke, Astrid, ich muss jetzt leider los.

Och, jetzt auf schon? Schade, wo wir doch so nett geplaudert haben. Aber ok, zahlen wir. Wann sehen wir uns?

Hab‘ diese Woche so viel zu tun, eventuell nächste Woche.

Ok, wir telefonieren.

HERR OBER, DIE RECHNUNG BITTE  … JA, ALLES ZUSAMMEN.

 

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*Aus der Bibel,  Apostelgeschichte 20, Vers 35

 

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