VerschobeneZeitVerschiebung

Es wird Zeit, sich die Zeit einmal näher anzuschauen. Denn im heidnischen Hier der alten Welt wird devot gehorcht, wenn der ZeitZeiger zweimal im Jahr zum Stundensprung ansetzt. Im terrorchristlichen Dort der schönen neuen Superwelt wird übrigens schon mal tolldreist gelogen, damit Chronos seine rhythmischen Runden dreht und sich erst eine Woche später für das Stündchen mehr Schlaf entscheiden darf:

Happy Halloween!

Der Nacht der Lebenden Toten haben wir es nämlich zu verdanken, dass die Kinder der toten Lebenden als Sensenmänner und Knochenklapperer eine Stunde länger vor amerikanischen Türen hausieren. Hier hat man die 5 eine 4 sein lassen – und … einfach die Zeitverschiebung verschoben. Keine kosmetische Q10-Sauerstoff-3D-Recitin-Sculpture-Revitalift-Profutura-Skinlife-Anti-Gravity-Anti-Wrinkle-Anti-Falten-Créme, kein kosmisches Tantra-Yoga, keine geheime Raum-Zeit -Bügelmaschine im südlichen Nevada und noch nicht einmal der Allmächtige höchst persönlich hat möglich gemacht, was diese Interessengemeinschaft geschafft hat:

Ladies & Gentleman, we are proudly present the …..

….. S Ü SS W A R E N L O B B Y!

Mars Incorporated, General Mills und Co. haben nach fast 10 Jährigem Chrono-Kampf die Zeit besiegt. Nun gut, angesichts der erwarteten 1,57 Millarden US-Dollar Umsatz für süße Chemoscheiße made in USA darf sie das auch, prognostizieren fleißige StatistikStatisten dem durchschnittlichen Hausbesitzer am höllischen Nationalfeiertag Kosten in Höhe von durchschnittlich 19,84 US-Dollar für Kaugummi mit Zuckerwattegeschmack, neonbunte Erdnussbuttersmarties oder Gummikekse mit Blaubeerfüllung zum Selbertoasten. Natürlich geht man in Punkto Informationsvermittlung mit der Zeit und fabuliert – wie es sich für einen Zeitgenössischen Gutmenschen gehört – statt der Wahrheit politisch korrekter von umweltschonenden Energieeinsparungen in Millionenhöhe ob der läppischen einen Woche des eine Stunde späteren Lichteinschaltens.

Was ist also die Zeit, in der Minuten verkauft werden wie amerikanisches Mikrowellenpopkorn?

Man nehme allein die Phrasen und Plattitüden, mit denen sich die gute alte Zeit herumschlagen muss:

Alles hat seine Zeit. Die Zeit totschlagen. Den Nerv der Zeit treffen. Am Zahn der Zeit nagen. Mit der Zeit gehen. Die Zeichen der Zeit erkennen. Das Zeitliche segnen. Ein Kind der Zeit. Zeitlos schön. Ach du liebe Zeit! Kommt Zeit, kommt Rat. Saure-Gurken-Zeit. Die Zeit heilt alle Wunden. Zeit bringt Rosen, aber auch Dornen. Wer nicht kommt zur rechten Zeit …

… vergeudete Zeit.

Zeit. kann aber auch etwas ganz anderes sein, als es ist, etwas, zu dem es erst in der Semantik der freien Marktwirtschaft geworden ist – Geld. Wer das hat, ist nach Zeit.unkritischem Maßstab quasi am Puls der Zeit. – Lieblingsfloskel ethisch wie moralisch ausgehöhlter Werbeschaffender (im Branchenjargon kurz „Werber“ genannt) die dem fatalen Irrtum unterliegen, ganz vorne (in der Zeit.) zu sein. Ganz hinten, träfe es hierbei wohl eher, am besten aber „noch nie DABEI gewesen“. Und wenn, dann als unerwünschter, verständnislos dreinschauender Zaungast auf aus eigener Tasche finanzierten subkulturellen Kunstveranstaltungen, von deren Sinn der karrieristische Zehenspitzenspanner allenfalls eine 2-Bit-Vorstellung hat:

„Das da soll Kunst sein? Das kann ich auch!“

Um anschließend genau das genau so nach-zumachen. Indem das jüngst Gesehene von selbsternannten „Kreativen“ mit vielsagendem Kennerblick beim nächsten Brainstorming in der Creative Lounge der Agentur skrupellos als eigenes Gedankengut promotet wird. Gesagt, getan – und schon wird binnen kürzester Zeit die originäre Individualistenidee Zeit.nah zum medialen Massenprodukt verraten, über dessen Existenz die In-Out-Skala des nonstop manipulierten Zeit.geistes entscheidet. Bis zum nächsten Ideenklau für den nächsten Werbespot, in dem erklärtermaßen „Gefühle, keine Marken“ verkauft werden.

Derart kunstverständnislosen Seelenverkäufern haben wir dann auch sinnbefreite Neologismen temporärer Natur wie das zitierte Zeit.nah,

aber gerne auch

asap, Zeit.kritisch oder

am besten schon gestern

zu verdanken – allesamt Vokabeln, entstanden aus Artikulationsmängeln profitfokkussierter Project Manager, die – der deutschen Sprache machtlos, der Verkaufsbilanz hörig – zwangsarbeitende Ex-Künstler zu immer neuen, immer unrealistischeren Höchstleistungen aufpeitschen müssen. Wohlgemerkt MÜSSEN, denn diese Audi-TT-fahrenden, golfspielenden und gepflegte Lounge-Mukke (ganz schön ausgeflippt, diese Kreativen!) hörenden After-Work-Spießer sind auch nur mikroskopische Rädchen im makroskopischen Getriebe der KriminellKommerziellen Großmaschinerie.

Vielleicht sollte man den Verantwortlichen des tiefenpsychologischen Kunsumwahnsinns einfach mal eine Zeitbombe in den chicen Meeting Room des zum LOFT diskreditierten ehemaligen GründerZeit-Fabrikgebäudes legen, deren sinnfreies Anglizismen-Gequatsche wie House-Music in den bildungsfernen Gehörgängen potenziell unkreativer Marketing Manager klingt? Nur, wahrscheinlich haben die persönlichkeitsbefreiten Werbeterroristen mit so beeindruckenden Titeln wie Creative-Director oder Senior Design Consultant ein so enges Zeitkorsett, dass die Bombe ausgerechnet dann hochgeht, während die schwarz gekleideten Office-Blondinen gehirngewaschen-dauergrinsend den Collani-Tisch schon für das nächste Kick-Off-Meeting mit eckigen Allessi-Tassen dekorieren. Schlechtes Timing. Dann doch lieber zu gänzlich unchristlicher Zeit die Lunte zünden.

Ähm ……. „Unchristliche Zeit“? Was soll DAS eigentlich sein? Sind demzufolge alle Nachtaktiven und Frühaufsteher Atheisten? Was ist mit einer Nonne, die nachts nicht schlafen kann? Mutiert die Schlaflose dann quasi zu einer Art heidnischen Hohepriesterin, so eine achselbehaarte Yoga-Gender-Tussi, die Steine lutschend mit verklärtem Blick in Trance und lilafarbenen Samtroben ums Walpurgisfeuer tanzt?

Und: Wann genau beginnt denn eigentlich das Unchristlich-sein?

Heute um 0:00 Uhr (beziehungsweise: eine Stunde später bei den Amis, denn schließlich ist ja noch nicht Halloween)?

Oder doch eher ab 3:00 Uhr, wenn im Fernsehen die Wichs-Filme im „Vierten“ laufen und domestizierte Ex-Nutten Automarken mit „A“ suchen? Alles wohl zu seiner Zeit .

Dabei ist Zeit doch relativ!

Sitzt du zum Beispiel in der überfüllten überhitzten Straßenbahn und versuchst, dich durch die beschlagenen Scheiben hindurch von der hoffentlich schnell schwindenden Distanz nach Hause zu überzeugen –

hinter dir niesende Rentner vor dir kichernde Teenys auf der einen Seite streng riechende Männer auf der anderen Seite synthetische Duftwasser über dir verwirrt blinkende Lichter unter dir verirrt geworfene GratisZeitungen um dich herum ein wabernder Chor aus versatzverstückten Stimmfragmenten Kirmes-Tekkno durch viel zu große Kopfhörer Akkordeon-Klänge Kinderjammern Blickausweichen Händeschwitzen Stehenbleiben Ellenbogen Gegenlehnen viel zu laute Handyschreie viel zu schrille Jamba-Töne

dehnt sich die Zeit wie ein endloser Kaugummi.

liegst du dagegen

einfach da,

mit ihm,

ihr,

die entspannten Gliedmaßen daunenweich

in Federn versunken

in der Rechten: Zigarette,

in der Linken: Whiskey, vor euch

flimmernde Bilder – vergessen

von euren umeinander tanzenden

Gedanken, die

zusammenfinden,

auseinandertoben,

ineinanderweben,

Spiralen drehend durch die Lüfte wirbeln,

Mauern durchdringen

nach fernen Ländern klingen,

um Metropolenhäuser ziehen

über weite Ährenfelder fliehen,

vor freien Geisteskünstlern niederknien,

in ihnen Parallelgedanken wiedersehen –

dann, immer dann,

wird Zeit von Zeit dahingerafft

Nicht so in der FastenZeit. Hierbei verzichten ­ausschließlich Ausgeschlafene (die anderen sind ja Atheisten) auf die allzu ausschweifende Aufnahme von Nahrungsmitteln, um ihr tiefrot überzogenes Sündenkonto auf grün zu hungern. Fremdgehen, gutmütige Rentner am Telefon bescheißen oder gelangweilten Hausfrauen im Fernsehen osteuropäische Plastikkleider für südeuropäische Luxusfummel verkaufen – einfach nix essen, und schon hat man einen fetten Sündendispo ohne Überziehungszinsen für das ganze darauffolgende Jahr!

Wobei ……. ging das in grauer VorZeit nicht noch schneller?

…………………………… natürlich – der AblaSSbrief!

Warum nicht das wohlfeile PapstPapier zur Pauschalleuterung revitalisieren und Zeitgemäß vermarkten? Wo es den Papst doch sogar für nur 0,79 Cent per SMS direkt aufs Handy gibt! Einmal zahlen – ein Jahr lügen! Oder für die junge Zielgruppe von den zitierten Werbern stylisch verclaimt: Pay once – lie twice! Das wäre doch eine effiziente Geschäftsidee für alle Scheinheiligen, die gerne fressen und vögeln, doch bei Nachbarn und Kollegen den Christen geben! Der fromme Freibrief für frivole Genießer! Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt, so das entlarvende Postulat eines mittelalterlichen Dominikanermönches, das im heutigen Mittelmaßalter überZeitliche Gültigkeit beweist, bevor einen das Zeitliche segnet.

Was daran segensreich sein soll, – man weiß es nicht.

Doch bevor ich gedenke das herauszufinden, mache ich mich auf die Suche nach der verlorenen Zeit und träume von Zeiten, in denen lautstarke Zeitzeugen auf der Höhe der Zeit ihre Zeitkritischen Texte unZeitgemäß konzipierten. In einer Zeit, in der die Zeit noch ihre Kunst und die Kunst noch ihre Freiheit hat.

Zeit der Kirschen

Zeit zu gehen.

© Lina

 

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